Die Quelle
kreidebleich auf dem Stuhl zusammensacken
sah. Sie wusste plötzlich genau, was zu tun war. In ihren Gedanken sah sie
den in blauen Nebel gehüllten See. Sie atmete tief durch und streckte ihre
Hand über die Stirn ihrer Mutter aus.
Eine leichte, sanfte Melodie überflutete den Raum.
Über Lisas Blickfeld legte sich ein blauer Schleier, als sie die
verängstigten Gedanken ihrer Mutter ertastete. Lisa war ohne Furcht. Sie
spürte, wie die Seele ihrer Mutter in einer Ecke ihres Bewusstseins
zusammengekrümmt war, während eine alte Bekannte sich in ihrem
Körper Platz verschaffte.
Lisa wurde zornig. Sie erkannte „die Diebin“. Es dauerte
nur den Bruchteil einer Sekunde, da hatte Lisa den Eindringling im Körper
ihrer Mutter in ihre Schranken verwiesen.
Sandra fühlte, wie Wärme in ihrem Körper
strömte. Die Kälte verschwand so plötzlich, wie sie gekommen war
und zum ersten Mal seit mehr als fünfzehn Jahren fühlte sie sich mit
ihrem Körper in perfekter Harmonie. Sie öffnete vorsichtig die Augen,
darauf hoffend, dieses wohlige Gefühl nicht zu verlieren. Über ihr
stand Lisa. Sie wirkte konzentriert und für einen Augenblick hätte
Sandra schwören können, dass die grünen Augen ihrer Tochter blau
geleuchtet hatten. Sandra stand auf. Sie konnte sich nicht daran erinnern,
jemals so viel Kraft und Energie gehabt zu haben. Lisa lächelte zufrieden,
während sie ihr half aufzustehen. Sandra zuckte nicht zusammen, als ihre
Hände sich berührten: Die Kälte war verschwunden.
„Wow!“ Das war Lisas erste Bemerkung und dabei blieb es
vorerst.
Sie holte zwei Gläser Wasser und beide Frauen
setzten sich, um zu verarbeiten, was gerade geschehen war. Sandra ergriff als
erste zögerlich das Wort.
„Weißt du, was du da gerade getan hast?“
Lisa wusste mehr, als sie ihrer Mutter verraten wollte.
Sie wusste jetzt, oder zumindest glaubte sie zu wissen, dass ihre Mutter
besessen war. Wie konnte sie ihr das so sagen? Vor allem, wie konnte sie ihr
sagen, dass sie das spüren konnte?
„Nicht genau. Ich weiß nur, dass es dir jetzt
für eine Weile gut gehen wird. Wir müssen Papa treffen. Du schreibst
ihm eine E-Mail und er soll hier antanzen.“
Sandra fragte sich, woher Lisa diese Selbstsicherheit und
Autorität hatte. Sie war zwar die Mutter, doch hier hatte eindeutig Lisa
das Sagen. Ihr war zwar bewusst, dass ihre Tochter mehr wusste, als sie ihr verriet,
doch Sandra respektierte ihren Wunsch, es vorerst für sich zu behalten.
Vorläufig genoss Sandra es einfach, sich „normal“ zu fühlen.
Mutter und Tochter umarmten sich zum ersten Mal in ihrem
Leben und beide waren für diesen Augenblick des Friedens zutiefst dankbar.
Kapitel 6
Lisa hatte das Gefühl, über ihrem Körper
zu schweben… Sie versuchte sich an die Traumbilder zu klammern, die die
Vergangenheit ihres Lebens und auch das ihrer Mutter darstellten… Es
widerstrebte ihr, sich dem Körper zu nähern, der auf sie wartete.
Etwas an ihm war falsch… Dieser Körper schien ihre Erinnerungen
auszusaugen… Sie nahm aus der Ferne wahr, wie eine bittere Flüssigkeit in
ihre Kehle floss. Kurz darauf fühlte sie, wie der Trank seine Wirkung tat:
ihr Geist war willenlos und fiel vollständig in den Körper
zurück, diesmal in einen traumlosen Schlaf.
*
Mehana hatte den ganzen Tag und einen Teil der Nacht
durchgeschlafen, als es sie aus dem Bett zog. Sie hatte Durst und Hunger wie
schon lange nicht mehr. Die wochenlangen Anstrengungen, die fremde Seele aus
der fernen Welt zu rufen, verlangten ihren Tribut. Die magische Runde hatte
Großes geleistet und Mehana wusste, dass alle anderen aus der Runde
genauso erschöpft waren wie sie. Sie konnte sie mit ihrem Geist
erspüren, einige schliefen noch, doch die meisten hatten sich im
Speisesaal getroffen und genossen gemeinsam ein nächtliches Mahl zur
Stärkung.
Sie zögerte kurz aufzustehen, doch schließlich
entschied sie sich dafür, sich zu ihnen zu gesellen. Es dauerte nicht
lange, bis sie von der harten Schlafmatte aufgestanden war, ihre Tunika
übergezogen hatte und hinaus ging. Sie schlenderte langsam durch die
menschenleeren Strassen, um den einsamen Spaziergang und den Anblick ihrer
Heimatstadt vollends zu genießen. Das Mondlicht erleuchtete die
Gärten, spiegelte sich in den Wasserfällen und ließ die
weißen, marmornen Gebäude silbrig schimmern, als habe Sternenstaub
sie berührt. Mehana blieb an einer breiten Allee einen Augenblick lang
stehen, von dem Anblick überwältigt.
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