Die Quelle
Natürlich war sie noch
immer geschwächt von der magischen Leistung, die sie vollbracht hatte,
doch, wie so oft, kam es ihr vor, als habe die Stadt eigene heilende
Kräfte, die sie stärkten, wenn sie es am meisten brauchte. Ker-Deijas
hatten die einstigen Erbauer dieser Stadt sie benannt, was in ihrer längst
vergessenen Sprache ‚Licht im Verborgenen’ bedeutete. Mehanas Blick richtete
sich gen Norden, wo die Gipfel der umgebenden Berge wie gigantische Schatten
unter dem nächtlichen Himmel ruhten und über die Stadt zu wachen
schienen. Bezog sich der Name auf die verborgene Lage der Stadt, die hinter den
hohen, unpassierbaren Bergen kaum zu finden war, oder steckte ein ganz anderer
Sinn dahinter? So oft schon hatte sich Mehana diese Frage gestellt, doch in all
den Jahren, da ihr Volk schon hier lebte, hatte kein noch so mächtiger
Visionär mehr über diejenigen erfahren, die einst hier gelebt hatten.
Ker-Deijas war ihr Vermächtnis. Eine stille Pracht, die tagsüber das
Licht der Sonne in sich barg, des Nächtens das Licht des Mondes… Stets
erleuchtet und doch kaum zu finden. Die Steine hüteten seit Jahrtausenden
ihr Geheimnis und nur wenigen Menschen war es gegeben, sie zu erblicken.
Nicht umsonst glaubten viele Nomadenvölker,
Ker-Deijas sei nur ein Trugbild, geboren aus der Fantasievorstellung von
Reisenden, die sich bis zu ihr verirrt hatten. Ein Trugbild, eine Legende
aufrechterhalten vom Volk der Hexer, wie Mehanas Volk abschätzig genannt
wurde… Das war es, was die Nomaden glaubten! Vielleicht wäre es für
Mehanas Volk besser gewesen, sich der Außenwelt nicht zu
verschließen. Dann würden sich jetzt nicht gar so viele
Verbündete gegen sie finden. Doch nun war es zu spät, sich mit einem
fremden Volk anzufreunden, die Hexenjagd würde bald eröffnet werden.
Als sie an dem flachen Gebäude des Refektoriums
ankam, auf dessen Dach einer der schönsten Gärten der Stadt gedieh,
entdeckte Mehana Galtiria. Die Kriegerin saß in der Dunkelheit des leeren
Speisesaals an einem der vielen Tische und winkte ihr zu, um auf sich
aufmerksam zu machen. Ihr Teller war bereits leer, doch während die
Regentin den großen Saal durchquerte, um sich zu ihr zu gesellen, stand
Galtiria auf, ging hinter eine steinerne Theke, um in die um diese Zeit
unbesetzte Küche zu gelangen. Sie holte für Mehana noch einen Teller,
etwas Brot und Käse. Es war in Ker-Deijas ungewöhnlich sich bedienen
zu lassen, doch ausnahmsweise nahm es Mehana dankbar an und setzte sich an den
Tisch, während Galtiria ihr das Essen brachte.
Erst als sich beide Frauen gegenüber saßen,
bemerkte Mehana die verräterischen Augenringe auf dem Antlitz der
Kriegerin. Es war für die Regentin tröstlich zu wissen, dass eine
junge, zähe Frau wie Galtiria ebenfalls noch erschöpft von der langen
Zeremonie war. Ihre Kraft und ihre Ausdauer waren in der ganzen Stadt bekannt.
Wenn eine Magierin wie Galtiria die Nachwirkungen ihrer Anstrengungen noch
immer spürte, dann würde ihr, die ganze dreißig Jahre älter
war, das wohl keiner vorwerfen können. Galtiria ertappte erstaunt Mehanas
Gedanken.
„Du solltest dich denken hören! Seit wann hast du
Angst vor Vorwürfen?“
Mehana schüttelte den Kopf und riss ein Stück
Brot vom Laib ab. Sie sah sich kurz misstrauisch um. Die einzige Beleuchtung
wurde vom Mond gespendet, der sanft sein Licht durch die scheibenlosen Fenster
fließen ließ. Das verlieh dem großen unpersönlichen Raum
eine etwas angenehmere Atmosphäre. Außer den beiden Frauen war
niemand da und nach einem leichten Zögern, entschied sich Mehana
dafür, sich Galtiria anzuvertrauen.
„Seit wir mit der Beschwörung fertig sind, stimmt
mit mir etwas nicht. Wir haben es geschafft, eine fremde Seele
heraufzubeschwören und in Serfajs Körper zu versetzen. Ich sollte
stolz auf unsere Leistung sein. Stattdessen plagen mich Zweifel“
Während sie sprach, aß sie gierig etwas von
dem Brot und dem Käse. Der Hunger war noch größer, als sie
gedacht hatte. Galtiria lächelte.
„Vorhin waren noch einige von den anderen da und wir haben
uns genau darüber unterhalten. Wir hatten alle solche Gedanken. Wir sind
noch zu keinem Schluss gekommen, weshalb es so ist, aber ich denke, wenn wir
alle wieder richtig wach und erholt sind, sollten wir uns zusammensetzen und
darüber reden. Wir haben all unsere Energie gebündelt und waren
tagelang eins. Vielleicht hat nur einer von uns Zweifel gehabt und diese haben
sich in uns alle eingeschlichen.
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