Die Quelle
würde, Mutter zu werden… dennoch
hätte er seine Zuneigung ihr gegenüber immer hinter seine Loyalität
gegenüber seines Volkes gestellt. Rasch zog sich Leathan aus der so
persönlichen Gedankenwelt des jungen Kriegers wieder heraus.
„Nein, das war falsch.“, antwortete Ruvin
schließlich. „Es stimmt, ich mag Loodera, mehr als gut für mich ist,
aber so weit wäre ich nicht gegangen. Verrat können wir uns nicht
leisten, schon gar nicht jetzt, da die Prophezeiung sich zu erfüllen
scheint.“
Seine Ausdrucksweise klang fürchterlich
leidenschaftslos, dennoch hatte Ruvin von Gefühlen gesprochen und Leathan
hatte sie in ihm gespürt.
„Wenn du in meiner Welt aufgewachsen wärst,
hättest du sie auch in Schutz genommen. Wir versuchen diejenigen, die wir
lieben, zu verstehen und wenn sie einen Fehler machen, versuchen wir zu
vergeben. Liebe ist etwas Wertvolles, wir leben es und unterdrücken es
nicht.“
Leathan versuchte seinen Zorn im Zaum zu halten. Es war
alles sehr verwirrend für einen ersten Tag in einer fremden Welt, in einer
fremden Haut. Beide sanken wieder in ihre eigenen Gedanken zurück,
während sie Treppen hochstiegen. Die flachen weißen Stufen
führten um ein Gebäude herum, das Leathan als das erkannte, in
welches er vor kurzem erst aufgewacht war. Einmal mehr wurde Leathan an die
Bauweise in Italien erinnert.
Leathan dachte darüber nach, ob das, was er gesagt
hatte, überhaupt stimmte. Lisas Welt war alles andere als gütig und
von Liebe geprägt. Hatte er nicht gerade nur ein Idealbild entworfen, das
in der Realität keinen Platz gefunden hätte? Hatte da die naive
Traumvorstellung einer Sechzehnjährigen gesprochen?
„Funktioniert das?“, klang plötzlich Ruvins
nachdenkliche Stimme, während er vor dem großen, kreisförmigen
Gebäude stehen blieb, das Leathan als das erkannte, das er Stunden zuvor
in Begleitung von Loodera verlassen hatte.
Leathan ärgerte sich über Ruvins Wortkargheit,
konnte er nie in ganzen Sätzen sprechen? Kurz rollte der junge Krieger
verärgert mit den Augen, wohl weil er feststellen musste, dass sein
Ansprechpartner einmal mehr auf Telepathie verzichtet hatte. Ungeduldig
erläuterte er seine Gedanken.
„Eine Gesellschaft, in der Liebe und Gefühle
über das Gesetz gestellt werden, funktioniert das?“
Leathan musste plötzlich lachen.
„Nein. Am Ende macht es alles noch viel komplizierter…
Aber wäre es nicht schön, wenn es funktionieren würde?“
Als beide sich verträumt zunickten und
lächelten, fühlte sich Leathan zum ersten Mal Ruvin verbunden. Es war
für beide ein schwerer Tag gewesen und sicher waren die Bedingungen, unter
denen sie sich kennen gelernt hatten, ziemlich unglücklich gewesen. In der
Zwischenzeit standen sie am Eingang des Gebäudes.
„Wo dein Zimmer ist, weißt du noch?“
„Ja, danke.“
Ruvin verabschiedete sich mit nur einem Nicken, ehe er
sich auf den Rückweg machte. Leathan betrat das runde, mehrstöckige
Gebäude und stieg die Treppe hinauf zum ersten Stock, wo sich sein Zimmer
befand. Er begegnete niemandem und als er den Vorhang beiseite schob, um das
fast unmöblierte Zimmer zu betreten, fühlte er sich einsam, so
einsam, wie noch nie zuvor.
*
Leathan wünschte sich, er hätte Ruvin nicht
gehen lassen. Unmöglich war es zu schlafen, nach allem was er erlebt
hatte. Unzähligen Fragen schwirrten in seinen Gedanken, doch es gab in dem
kargen Zimmer keinerlei Ablenkung, nichts, was ihm geholfen hätte, zu Ruhe
zu kommen. Er sah durch das scheibenlose Fenster... Die Stadt schlief im
blassen Mondlicht, während Leathan den Tag Revue passierte.
Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Serfajs
Erinnerungen waren im Laufe des Tages schwächer geworden. Es fiel ihm nun
immer schwerer, auf sein Wissen zurückzugreifen, dennoch wusste Leathan,
dass er es brauchte, um sich in dieser Welt zurechtzufinden. Er versuchte sich
dank Lisas Biologiekenntnissen und Serfajs Magiekenntnissen darüber klar
zu werden, was gerade in seinem Körper passierte. Lisas Seele hatte ihre
Erinnerungen aus der anderen Welt mitgenommen. Serfajs Neuronen und
Gehirnchemie hatten ebenfalls Erinnerungen gespeichert. Leathan hatte nun das
Wissen von beiden, doch dafür war ein menschlicher Körper nicht
geschaffen…
Lisas Seele, seine Seele, nahm langsam das gesamte Gehirn
in Anspruch und die Erinnerungen von Serfaj wurden allmählich
überschrieben. Sein Gehirn war wie eine Computerfestplatte, die langsam
formatiert und neu programmiert
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