Die Rache der Engel
Armenien, werte Mrs Faber, ist Noahs Land. Und alles, was mit Noahs Geschichte zu tun hat, die Sintflut und das, was die Bibel über die Ursprünge unserer Zivilisation verschweigt, interessiert mich. Auch wenn es am anderen Ende der Welt liegt. Ihren Mann übrigens auch.«
» Sich für Legenden zu interessieren, ist doch legitim«, pflichtete ich ihm bei.
Ich war überrascht, dass Dujoks Männer– sogar der Pilot– aus dem Flugzeug stürmten, als befänden sie sich mitten in einem Kriegsgebiet: Sie sprangen hinaus, während sich die Rotoren noch drehten.
» Wissen Sie was?«, fuhr ich fort, als ich bemerkte, dass Dujok bereits auf dem Erdboden stand und mir seine Hände reichte, um mir beim Aussteigen behilflich zu sein. » Ich finde diese Geschichten auch faszinierend. Sie hinterlassen ihre Spuren in der Kunst und in der Fantasie der Völker. Aber ich bin so klug, sie niemals wörtlich zu nehmen.«
Dujok forderte mich auf, ihm zu folgen.
» Sie dürfen sie nicht unterschätzen!«, rief er. » Bedenken Sie, Legenden sind wie diese russischen Puppen: Wenn man eine öffnet, stellt man fest, dass sie eine andere enthält, die noch älter ist. Die Beschäftigung damit ist wie eine Schatzsuche. Jede Geschichte, die man auseinandernimmt, führt einen näher an den Ursprung, an ihre echte DNA . Alle verbergen etwas Wirkliches. Etwas, was auf eine andere Weise erzählt vielleicht schon vor Jahrtausenden vergessen worden wäre. Und wenn man bei der ältesten Version angekommen ist, entdekt man, dass diese die wichtigsten Informationen enthält.«
» Worauf wollen Sie hinaus, Mr Dujok?«
» Martin und ich sind Freunde geworden, weil wir uns oft über solche Berichte unterhalten haben. Können Sie sich noch daran erinnern, wie Sie sich kennengelernt haben?«
» Ja, schon… Also, er kam auf dem Jakobsweg nach Noia.«
» Genau. Aber nicht als normaler Pilger. Er war auf der Suche nach uralten Geschichten wie der von Noah.«
» Sie sind wirklich ein Scherzkeks«, fiel ich ihm ins Wort. » Der Jakobsweg führt Pilger zum Grab des Apostels Jakobus. Das hat doch nichts mit Noah zu tun!«
Dujok ließ sich durch meine Antwort nicht beeindrucken.
» Ach nein? Aber warum zeigt dann das Wappen Ihres Heimatortes eine Arche? Warum heißt der höchste Berg, der von hier aus zu sehen ist, ausgerechnet Aro? Warum tragen Sie das Symbol für die Arche Noah als Silberschmuck?«
Der Armenier schien sich über mich zu amüsieren. Dann griff er zu seiner Waffe, wies seine Männer an, sich mit dieser Art schwarzem Umhang zu bedecken, den ich an Waasfi schon Stunden zuvor in der Kathedrale gesehen hatte, und sagte noch:
» Der Jakobsweg ist viel älter als diese Scharade vom Apostel Jakobus, die Sie im Kopf haben. Dieser Weg wird schon seit wenigstens viertausend Jahren begangen.«
» Scharade haben Sie gerade gesagt?«
» Ist Ihnen das denn noch nicht aufgefallen? Der vorgebliche Jakobsweg führt durch Orte, deren Namen alle mit Noah zusammenhängen. Es gibt nicht nur hier in Galicien den Ort Noia, sondern in der Provinz La Coruña auch noch den Weiler Noenlles und in der Provinz Orense den Ort Noallo. In Navarra gibt es das Dorf Noain, und dann noch Noja in der Gegend von Santander. Diese Orte liegen alle im Norden von Spanien, aber noch etwas nördlicher, in Großbritannien und in Frankreich finden sich ähnliche Ortnamen und vergleichbare Legenden. Heutzutage kennt sie fast niemand mehr, und nicht einmal an den Universitäten beschäftigt man sich so mit ihnen, wie sie es verdient hätten.«
Ich war verblüfft.
» Aber wie ich sehe, befassen Sie sich mit dem Thema.«
» Ja, genau wie Martin. Ihr Mann ging in Wahrheit den Noahweg und nicht den Jakobsweg, als Sie ihn kennenlernten. Martin hat gewusst, dass die Ortsnamen, die ›Noah‹ enthalten, sozusagen einen Geheimweg zu einem Ort markieren, der mit dem türkischen Ararat in Verbindung steht.«
» Hier? In Noia?«
» Genau. Wenn der Jakobsweg zum Grab des Apostels führt, dann endet der Noahweg…«
» Bei Noahs Grab?«
42
Ellen Watson fand keinen Ort, der sich besser für diesen Anruf geeignet hätte. Sie verließ die amerikanische Botschaft in Madrid durch den Eingang, der auf die Calle Serrano führt, und hielt nach einem verschwiegenen Winkel Ausschau, an dem sie vor neugierigen Blicken geschützt wäre. Zu dieser frühen Morgenstunde war das Viertel mit den Nobelläden noch nicht erwacht, höchstens ein paar Taxis und zwei oder drei Lieferwagen waren unterwegs.
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