Die Rache der Heilerin: Roman (German Edition)
eine vorübergehende Neigung gehalten hatte. Als Ann aber anfing, regelmäßig nach Vire zu laufen, wenn dort fromme Wanderprediger zu den Gläubigen sprachen, hatte dies zumindest ihre Mutter Aline beunruhigt. Denn sie fürchtete, ihre Tochter würde sich in einen religiösen Wahn hineinsteigern.
Aber auch Aline war völlig überrascht, als Ann eines Tages ihren Eltern, Adela und ihrem Bruder Nicolas eröffnete, sie habe beschlossen, in ein Kloster einzutreten. Während der Predigt eines Benediktinerpaters habe der Heilige Geist zu ihr gesprochen, und sie habe begriffen, dass dies der Weg sei, den Gott für sie vorgesehen habe.
Adela erinnerte sich noch gut daran, dass ihre Mutter, die immer sehr resolut gewesen war und mit beiden Füßen auf dem Boden gestanden hatte, richtig zornig geworden war. Sie hatte Ann angeherrscht, dass sie wohl »nicht ganz bei Sinnen« sei und dass sie nur auf die Idee verfallen sei, ins Kloster zu gehen, da sie sich an Gwens und Patricks Tod schuldig fühle. Doch je mehr Aline versucht hatte, ihre Tochter von diesem Schritt abzuhalten, desto starrköpfiger hatte Ann auf ihrem Vorhaben beharrt. Wobei sich Mutter , dachte Adela, während sie durch einen hohen Torbogen ging, im umgekehrten Fall bestimmt genauso verhalten hätte.
Schließlich hatte Ethan eingelenkt und Ann begleitet, damit sie in dem Benediktinerinnenkloster bei Bellême ihr Noviziat antreten konnte. Er und Aline hatten gehofft – wie auch Nicolas und Adela –, dass die Realität des Klosterlebens Ann bald zeigen würde, wie falsch ihr Entschluss war. Doch zwei Jahre später teilte ihnen Ann in einem Brief mit, dass ihr Noviziat nun abgeschlossen sei und sie sich »nach reichlicher innerer Prüfung« dafür entschieden habe, die ewigen Gelübde als Nonne abzulegen.
Adela und ihre Eltern wollten zu dem feierlichen Gottesdienst reisen – Nicolas war zu dieser Zeit gerade frisch verheiratet und lebte mit seiner jungen Frau bei Salisbury –, aber tagelange Unwetter hatten die Straßen unpassierbar gemacht. Seitdem war nur alle ein, zwei Jahre einmal ein kurzer Brief von Ann auf dem Gut eingetroffen, in dem sie schrieb, dass es ihr gut ginge und sie für ihre Angehörigen beten würde. In einem dieser Briefe hatte sie auch berichtet, dass sie nun für die Pflege der Kranken verantwortlich sei.
Dieser Brief war kurz vor Alines Tod eingetroffen, und sarkastisch und traurig hatte diese gesagt: »Wenigstens aus einem ihrer Talente hat das Mädchen etwas gemacht.«
An all das musste Adela denken, als sie nun durch den Torbogen in den Garten trat, der sich einen sanften Abhang hinunter bis zur Klostermauer am Flussufer erstreckte. Einige junge Nonnen, die die braunen Kutten von Novizinnen trugen, arbeiteten zwischen den Gemüsebeeten. Sie schnitten Kohlköpfe von ihren Strünken, lockerten die Erde um Zwiebeln und Lauchstangen mit kleinen Hacken und lösten Erbsenschoten von üppigen Büschen. Am Rand der Beete wuchsen Sonnenblumen sowie Astern und Rosen. In ihren bunten Farben glaubte Adela zum ersten Mal, seit sie das Kloster betreten hatte, so etwas wie Lebensfreude erkennen zu können. Ann konnte sie nirgends erblicken.
Eine Öffnung in einer hohen Hecke führte zum Kräutergarten. Dort blickte Adela sich wieder suchend um. Mit niedrigem, beschnittenem Buchs eingefasste Beete bildeten ein Quadrat. In seiner Mitte stand ein kleiner, steinerner Brunnen. Wasser plätscherte in die runde, von Löwenfüßen gehaltene Schale. Dann entdeckte sie auf der anderen Seite des Gartens die Hütte, von der die Pförtnerin gesprochen hatte. Ein Rauchfaden kräuselte sich durch das Abzugsloch im Dach in den grauen Himmel. Die Tür stand offen. Drinnen beugte sich eine Nonne über einen Tisch.
Adela war plötzlich beklommen zu Mute. Mehr als zehn Jahre waren vergangen, seit sie und ihre Schwester sich das letzte Mal gesehen hatten. Ob sie sich überhaupt noch nahe standen? Vielleicht waren sie sich ja auch völlig fremd geworden, und Ann würde ihr nicht helfen wollen. Zögernd blieb sie auf der Schwelle stehen. Ihre Augen benötigten einige Zeit, ehe sie sich an das Dämmerlicht im Hütteninneren gewöhnt hatten. Die Nonne, die, wie Adela jetzt wahrnahm, eine nach Salbei riechende Flüssigkeit durch ein Sieb in einen Topf goss, wandte ihr das Profil zu. Ja, die Benediktinerin war Ann. Sie war jetzt Ende zwanzig. Ihr Gesicht war schmaler, als Adela es in Erinnerung hatte, und um ihren Mund, der früher so gerne gelacht hatte, lag ein
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