Die Rache der Heilerin: Roman (German Edition)
beides Luce hin.
Zu Adelas Erleichterung verweigerte ihr Sohn nun nicht länger die Nahrung. Und obwohl sie kaum einen Bissen hinunterbrachte, zwang sie sich auch selbst, ein wenig zu essen.
Kapitel 3
H ier lebt also meine Schwester Ann seit zehn Jahren, dachte Adela, während sie ihren Blick über das Kloster schweifen ließ, das unterhalb von ihr an einem Fluss in einer Senke lag. Zum ersten Mal, seit sie die Nachricht von Francis’ Tod erhalten hatte, empfand sie so etwas wie einen Anflug von Interesse und nicht nur dumpfe Gleichgültigkeit. Eine hohe Mauer umgab die Anlage, die von einer Kirche mit einem wuchtigen viereckigen Turm beherrscht wurde. Die Kirche war, wie auch einige andere Häuser – wahrscheinlich Wohngebäude –, aus hellem Kalkstein errichtet worden.
Der Septembertag war trübe. In dem fahlen Licht verströmte der Stein eine kühle Strenge. Die aus Fachwerk erbauten Nebengebäude waren groß und strohgedeckt. Dahinter erstreckte sich ein weitläufiger Garten mit Beeten und Obstbäumen. Das Laub war da und dort bunt verfärbt. Auch die Felder rings um das Kloster waren teilweise schon abgeerntet, und die Luft roch nach frisch geschnittenem Getreide.
Zu Hause würden Francis und ich nun bald mit der Ernte beginnen , schoss es Adela durch den Kopf, während sie dem steinigen Weg hinunter zum Kloster folgte. Sofort verbot sie sich, weiter daran zu denken. Wenn sie zu sehr dem nachhing, was sie verloren hatte, würde sie die nächsten Wochen und Monate nicht überstehen – und das musste sie. Um Luces willen.
Am Vortag hatten sie die Grenze der ausgedehnten Klosterländereien erreicht und in einem Waldstück übernachtet, wo Gerard und ihr Sohn nun auf sie warteten. Eine knappe Woche hatten sie für die Reise benötigt, denn während der letzten Tage waren sie nur nachts unterwegs gewesen, um nicht umherstreifenden Gruppen von Bewaffneten in die Hände zu fallen. Erst in der Gegend um das zehn Meilen entfernte Bellême waren die Wege wieder sicherer geworden.
Während der ganzen Reise hatte Luce meist nur mit Gerard gesprochen. Sie wusste, dass sie ihm Zeit geben musste, um über den Tod seines Vaters hinwegzukommen. Trotzdem fürchtete sie, nicht nur ihren Mann, sondern auch ihr Kind verloren zu haben. Damit nicht genug, plagte Luce seit einigen Tagen ein schlimmer Husten.
Ach, wenn wir doch hier nur eine sichere Bleibe finden , hoffte Adela. Vielleicht würde es ihr dann allmählich gelingen, Luces Vertrauen zurückzugewinnen.
Die Pförtnerin in ihrem Häuschen hinter dem Klosterportal war eine rundliche, um die vierzig Jahre alte Frau, deren Gesicht von zahlreichen geplatzten Äderchen durchzogen war.
»Bitte, könnt Ihr mir sagen, wo ich Schwester Fidelis finde?«, gebrauchte Adela Anns geistlichen Namen.
»Ihr wollt sie sicher wegen eines Leidens aufsuchen.« Die Benediktinerin musterte Adela so mitleidig, dass ihr klar wurde, wie verhärmt und mitgenommen sie aussehen musste. »Um diese Tageszeit hält sie sich gewiss im Garten oder in ihrer Kräuterhütte auf.«
Adela überlegte, ob sie der Nonne sagen sollte, dass sie Anns Schwester war. Doch irgendetwas hielt sie davon ab. Stattdessen ließ sie sich den Weg zum Garten beschreiben. Er führte sie an der Kirche vorbei, die auch aus der Nähe gesehen nichts von ihrer Strenge verlor. Einige Nonnen begegneten ihr, die den Blick auf den Boden gerichtet hatten. Dies in Verbindung mit ihren schwarzen Mänteln und Schleiern ließ Adela unwillkürlich an scheue Vögel denken. Wie hat es meine Schwester, die als Mädchen und junge Frau so übermütig und lebenslustig war, nur all die Jahre hier ausgehalten? , fragte sie sich.
Keiner aus ihrer Familie hatte es sich vorstellen können, dass Ann jemals auf die Idee verfallen würde, Nonne zu werden. Schließlich war sie von Verehrern umschwärmt gewesen. Aber dann kam der Sommertag, an dem Ann mit Adelas anderer Schwester Gwen und ihrem Bruder Patrick von Südengland zur Normandie segeln wollte. Sie waren nicht mehr weit von der normannischen Küste entfernt, als plötzlich ein Sturm aufzog und das kleine Boot kenterte. Als Einzige der drei Geschwister hatte Ann das Unglück überlebt. Dass sie sich danach sehr in sich zurückzog, wunderte niemanden in der Familie. Schließlich hatten alle sehr um Gwen und Patrick getrauert. Auch dass Ann, die nie besonders fromm gewesen war, nun häufig in die Kirche ging, um zu beten, war verständlich gewesen, auch wenn das jeder ihrer Verwandten für
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