Die Rache der Heilerin: Roman (German Edition)
»Roderick, wie lange sollen wir hier denn noch warten? Sorgt endlich dafür, dass wir weiterkönnen«, rief sie gereizt.
Adela hatte fast mit den Frauen und dem alten Mann den Straßenrand erreicht, als sie einen zischenden Laut vernahm. Gleich darauf spürte sie einen brennenden Schmerz an ihrer rechten Wange, wo sie die Peitschenschnur getroffen hatte. Voll ohnmächtigem Zorn verfolgte sie, wie die Bewaffneten an ihr vorbeizogen. Für einen Moment glaubte sie, hinter dem Fenster der Sänfte, neben der vornehmen Dame, ein erschrockenes Mädchengesicht zu sehen.
Als die Reitergruppe sie endlich passiert hatte, untersuchte Adela den Knöchel des Alten – es stellte sich heraus, dass er nur verrenkt und nicht gebrochen war. Sie bestrich ihn mit einer schmerzlindernden Salbe und stützte das Gelenk mit einem Verband. Von dem Alten und den beiden Frauen erfuhr sie, dass die Leute Bauern aus der Gegend um Avranches waren. Soldaten hatten tatsächlich auch ihr Gut ausgeraubt und niedergebrannt. Wieder empfand Adela einen ohnmächtigen Zorn auf die adelige Dame. Menschen wie ihresgleichen überstanden schlimme Zeiten meist unbeschadet und gönnten trotzdem den Armen noch nicht einmal einen Platz auf den Straßen!
Bis zur nächsten großen Weggabelung zog sie mit den Bauern weiter. Deren Ziel war Elbeuf, während Adela zur Küste wollte. Sie war ganz froh, dass sich ihre Wege trennten, denn ihr war nicht nach Gesellschaft zu Mute. Die Erkenntnis, dass sie schwanger war, beschäftigte sie immer noch viel zu sehr. Außerdem machte ihr die Müdigkeit immer mehr zu schaffen.
Am frühen Nachmittag, als sie wieder einmal ein Waldstück hinter sich gelassen hatte, sah Adela in einiger Entfernung ein großes Gehöft am Straßenrand liegen. Die hohe Mauer, die es umgab, war weiß gekalkt, und die Tonziegel einiger Gebäude schimmerten hell in dem milchigen Licht. Bestimmt wohnten hier Edelleute.
Adela hatte geplant, bis zum nächsten Dorf weiterzuwandern. Doch nun glaubte sie, kaum mehr einen Fuß vor den anderen setzen zu können. Deshalb beschloss sie, in dem Gehöft zu fragen, ob sie vielleicht für eine Nacht dort bleiben könne.
Als Adela durch das Tor trat, sah sie am Rande des mit Sand und Stroh bestreuten Hofes vor einem zweistöckigen Wohngebäude die rot-goldene Sänfte stehen. Sie wollte schon wieder umkehren, doch ein Mann – seinem einfachen Kittel nach zu schließen ein Knecht – kam auf sie zu und fragte sie, ob er ihr helfe könne. Da er ein freundliches Gesicht hatte, sagte Adela zögernd: »Ich suche einen Platz für die Nacht …«
»Meine Herrschaft hat vornehmen Besuch bekommen. Aber ich denke nicht, dass sie etwas dagegen hat, wenn Ihr auf dem Heuboden schlaft.« Der Knecht deutete auf ein Gebäude, dessen Strohdach fast bis zum Boden hinunterreichte. »Geht nur hinein.«
Adela bedankte sich und überquerte den Hof. Im Inneren der Scheune überlagerte der Duft von frisch geschnittenem Gras alle anderen Gerüche. In dem schattigen Licht tastete sie sich zwischen Wagen, Truhen, Körben und Säcken bis zur Leiter vor. Oben auf dem Boden ließ sie sich ins Heu sinken und schlief sofort ein.
Ein Sonnenstrahl, der ihr direkt ins Gesicht schien, weckte sie. Er fiel durch eine schmale Luke hoch oben in der Giebelwand. Obwohl Adela – wie sie anhand des Sonnenstandes feststellte – gar nicht so lange geschlafen haben konnte, fühlte sie sich längst nicht mehr so erschöpft. Da ihre Kalebasse leer war, beschloss sie, auf dem Gut nach einem Brunnen oder Bach zu suchen, wo sie das Gefäß füllen konnte.
Sie glaubte sich daran zu erinnern, vorhin hinter der Scheune Wasser glitzern gesehen zu haben. Deshalb ging sie um das Gebäude herum. Ja, zwischen Schilfbüscheln verlief ein Bach.
Hinter einer Reihe niedriger Obststräucher hörte Adela nun fröhliche Stimmen. Zwei Mädchen, die acht oder zehn Jahre alt sein mochten, spielten miteinander Ball. Eines der beiden war blond und ein bisschen pummelig, das andere eher schmal und dunkel. Als der Wind seine lockigen Haare zurückblies, erkannte Adela in ihm das Kind aus der Sänfte. Unter einem Apfelbaum saßen einige Frauen, darunter auch zwei Nonnen und die Dame, die vorhin ihren Bediensteten angehalten hatte, die Peitsche zu gebrauchen. Sie sahen dem Spiel zu. Eine Magd reichte den Frauen kleine Kuchen, eine andere goss ihnen Getränke ein.
Ja, sie gehörten wirklich zu den vom Schicksal Begünstigten! Hastig ging Adela zum Bach weiter. Dort bückte sie
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