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Die Rache der Heilerin: Roman (German Edition)

Die Rache der Heilerin: Roman (German Edition)

Titel: Die Rache der Heilerin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Sauer
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etwas ahnte, würde sie bestimmt nicht verraten. Sie musste Nicolas’ Grab aufsuchen und herausfinden, was mit seiner Familie geschehen war. Das war sie ihrem toten Bruder schuldig. Wenn sie es nicht tat, würde sie sich für immer verachten.
    *
    Ann entdeckte Luce am anderen Ende der Stallgasse. Der Junge stand neben einem riesigen grau gescheckten Hengst, der friedlich Heu aus einer Raufe zupfte, und redete leise auf ihn ein.
    »Der Knirps versteht sich wirklich außerordentlich gut auf Pferde.« Schwester Petrona, eine Nonne Ende dreißig, die das breite Rückgrat und die muskulösen Arme eines Mannes hatte, schwang eine Gabel voller Mist auf einen Schubkarren. Sie schenkte Ann ein Lächeln und blickte dann zu dem Hengst. »Ich hatte ja zuerst Sorge, Luce in Adalberts Nähe zu lassen. Schließlich ist das Vieh sehr launisch und nur schwer zu bändigen. Aber wenn der Junge in seiner Nähe ist, verhält sich der Hengst immer lammfromm.«
    »Ja, Luce hat tatsächlich ein großes Gespür für Pferde«, erwiderte Ann. Schnell hatte sich herausgestellt, dass der Junge im Stall am besten aufgehoben war. Er half, die Tiere zu striegeln und zu füttern, und obwohl er noch so klein war, ließ ihn Schwester Petrona, die die Oberaufsicht über die Stallungen hatte, auch häufig die Pferde auf dem Hof bewegen. Luce kam all diesen Aufgaben mit großem Eifer nach, und wenigstens hier schien er sich wohl zu fühlen und blühte regelrecht auf. Denn sonst war er meist – wie Ann fand – zu still und in sich gekehrt.
    »Komm, Luce«, sagte sie freundlich, »es ist Zeit, dass du mir in der Kräuterhütte hilfst.« Sie hatte es so einzurichten gewusst, dass ihr Neffe jede Woche ein paar Stunden mit ihr verbringen konnte.
    »Ja, Schwester Fidelis«, antwortete Luce gehorsam. Es versetzte Ann immer einen Stich, wenn er sie so nannte, auch wenn dies zu seinem Schutz nun einmal so sein musste. Stumm folgte er ihr aus dem Stall und dann über das verschneite Klostergelände.
    Als sie in der Kräuterhütte angelangt waren, zündete Ann ein Talglicht an. Sie erwärmte Milch in einem Tonkrug über den glimmenden Kohlen und gab Honig hinein. Luce hatte es sich währenddessen auf einem Stapel Decken bequem gemacht und baumelte mit den Beinen. Nachdem er die Milch ausgetrunken hatte, fragte sie ihn: »Magst du wieder Buchstaben lernen?«
    »Ja.« Er nickte. Ob er wirklich daran interessiert war oder ob er dies nur sagte, um ihr zu gefallen, wusste Ann nicht zu deuten, denn sein Gesicht war ganz still und ausdruckslos.
    Sie unterdrückte ein Seufzen, holte ein Wachstäfelchen und einen Griffel aus einem der Regale und setzte sich neben ihren Neffen. Rasch ritzte sie einige Buchstaben in das Wachs. »So, und nun sag mir, welche Buchstaben das sind.«
    »Ein A, ein E, ein H und ein S«, sagte Luce langsam.
    »Gut gemacht, du hast alle Buchstaben richtig erkannt.« Ann lächelte ihn an. »Jetzt kannst du bestimmt auch das lesen?« Wieder ritzte sie Lettern in das Wachs. Luce betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »H, A, S, E«, buchstabierte er schließlich. Ein plötzliches Lächeln erhellte sein Gesicht, als er begriff. »Hase, ich habe Hase gelesen.«
    »Ja, das hast du. Und jetzt wollen wir es einmal mit neuen Buchstaben versuchen.« Ann begann, ein B und D auf die Tafel zu schreiben. Doch als gleich darauf vor der Hütte lautes Hundegebell ertönte, sprang Luce auf. »Darf ich zu Guy?«, fragte er eifrig.
    »Ja, lauf nur.« Ann nickte. Luce stürzte durch den Raum, riss die Tür auf und rannte auf Guy zu, der ihm über die schneebedeckten Beete entgegensprang. Wie ein Ertrinkender klammerte sich das Kind an den Hund.
    Ann tauschte einen raschen Blick mit Gerard, der gemächlich durch den Garten geschritten kam. »Guy und die Pferde, das sind die einzigen Lebewesen, in deren Gegenwart Luce wirklich glücklich zu sein scheint«, sagte sie leise. »Und an Euch hängt er natürlich auch sehr …«
    »Ich nehme an, Ihr wollt damit sagen, dass Ihr Euch nicht sicher seid, ob sich der Junge in Eurer Gegenwart wohl fühlt?« Gerard lächelte ein wenig.
    »Ja, ich weiß einfach nie, was wirklich in ihm vorgeht.« Ann hob hilflos die Schultern. »Ich wünsche mir so sehr, dass er mir vertraut. Aber manchmal frage ich mich, ob es wirklich richtig von mir war, Adela zu raten, Luce hier im Kloster bei mir zu lassen. Ob es nicht doch besser gewesen wäre, wenn sie in seiner Nähe geblieben wäre. Schließlich hat sich William de Thorigny ja nur wenige

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