Die Rache der Heilerin: Roman (German Edition)
Tage lang hier aufgehalten …«
»Das konntet Ihr ja nicht vorhersehen. Außerdem kann dieser Kerl jederzeit wieder hier auftauchen.« Gerard schüttelte den Kopf. »Immerhin haben wir schon Februar. In zwei, drei Monaten kann ich Luce zu seiner Mutter bringen.«
Ann blickte zu Luce, der jetzt ausgelassen mit Guy im Schnee herumtollte. Hoffentlich geht es Adela gut, dachte sie, und hoffentlich wird Luce tatsächlich im Sommer wohlbehalten mit Gerard bei ihr und Nicolas eintreffen.
*
Adela spähte durch die Baumstämme zu dem Gut, das – jenseits eines tief verschneiten Feldes – in einer Mulde lag. Dies war der Ort, wo sie aufgewachsen war. In der mit Schindeln gedeckten Scheune hatten sie und ihre Geschwister um die Körbe und Säcke herum Fangen gespielt, und oben auf dem Boden hatten sie Höhlen ins Heu gebaut. Vor dem weiß gekalkten Wohngebäude hatte ihre Mutter im Sommer oft gesessen und Wolle gesponnen, Gemüse geputzt und Kräuter verlesen.
Als Adela die Augen schloss, glaubte sie für einige Momente trotz der winterlichen Kälte die typischen Gerüche ihrer Kindheit wahrzunehmen: den frischen des klaren Bachs, der dicht an dem Gehöft entlangfloss und den lieblichen der Blumen, die im Sommer an seiner Böschung wuchsen. Den Duft von Brot, das ihre Mutter buk, und den der Kräuter, mit denen sie sich beinahe jeden Tag beschäftigt hatte. Und natürlich die Gerüche von Heu und Getreide, wenn im Herbst die Ernte eingebracht wurde. An diesem Ort war sie glücklich gewesen. Hier hatte sie gehofft, eine Zuflucht zu finden. Nun hatte William de Thorigny ihr auch diese genommen.
Der Hass, der in ihr aufstieg, half ihr über ihre Erschöpfung hinweg. Die Nacht hatte sie in einer verlassenen Köhlerhütte verbracht und danach war sie stundenlang über Schleichwege, die sie noch aus ihrer Kindheit kannte, durch den hohen Schnee gestapft. Sie musste Nicolas’ Grab aufsuchen, und danach musste es ihr irgendwie gelingen, mit den Bediensteten zu reden. Einige waren schon während ihrer Kindheit auf dem Gut gewesen, und sie hoffte, dass sie ihnen vertrauen konnte. Schließlich hatten ihre Eltern die Knechte und Mägde immer gut behandelt.
Die kleine Kirche, bei der der Friedhof lag, stand etwa eine halbe Meile entfernt auf einem Hügel. Sie war aus grauen Steinen erbaut und hatte einen niedrigen, viereckigen Turm. Vor dem schieferfarbenen Himmel wirkte sie wie ein wachsam geducktes Tier. Der Weg über die Felder wäre kürzer gewesen, aber von Weitem einsehbar, deshalb wählte Adela einen Pfad durch den Wald. Bevor sie den Friedhof betrat, blieb sie eine Weile im Schutz von Sträuchern stehen und vergewisserte sich, dass sich niemand dort aufhielt.
Während sie an den verschneiten Gräbern entlanglief, lag das Kind bleischwer in ihrem Leib. O Gott , flehte sie in Gedanken, lass nicht William de Thorigny sein Vater sein! Und hoffentlich, durchfuhr sie eine weitere Angst, hatte de Thorigny wenigstens erlaubt, dass Nicolas auf dem Friedhof bestattet wurde, und ihn nicht wie ein räudiges Tier irgendwo verscharren lassen.
Das Grab ihrer Familie lag in der Nähe des Kirchturms und einiger alter Eiben. Unter dem Schnee war ein frischer Erdhügel aufgeschüttet. Ein einfaches, grob behauenes Holzkreuz steckte darin. Hier in diesem Grab, bei ihren Geschwistern Patrick und Gwen, hatte nun also auch Nicolas seine letzte Ruhe gefunden. Und möglicherweise waren hier auch seine Gattin und seine beiden Söhne bestattet. Adela kniete sich in den Schnee und sprach ein Gebet.
Sie schreckte erst auf, als das Tor in der Umfriedung sich quietschend öffnete. Hastig wich Adela vom Grab zurück. Eine ältliche Frau, die die grobe Kleidung einer Magd trug, lief über den Friedhof. In der Hand hielt sie einen Stechpalmenzweig, der mit roten Beeren besetzt war. Adela senkte den Kopf und eilte an ihr vorbei. An der Ecke der Kirche wandte sie sich um, da sie noch einen letzten Blick auf die Ruhestätte ihrer Familie werfen wollte.
Die Magd stand vor dem Grab. Den Stechpalmenzweig hatte sie auf den verschneiten Erdhügel gelegt. Sehr rot hoben sich die Beeren von dem Weiß des Schnees ab. Ein Windstoß wehte ihren Schleier zurück. Adela konnte ihr Profil sehen. Die Frau war Caitlyn, eine Magd, die Adelas Familie schon seit ihrer frühen Kindheit gedient hatte. Ihr konnte sie bestimmt vertrauen.
»Caitlyn!«, rief sie leise.
Die rot geäderten grauen Augen der Magd weiteten sich zuerst überrascht, dann erschrocken. »Miss Adela,
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