Die Rache der Jagerin
begeisterte, Dregs zu töten – dass es mir das Gefühl verlieh, gebraucht zu werden, was ich als wütendes Waisenkind nie gehabt hatte.
Psychologie war doof.
Wyatt kam auf mich zu, und ich schreckte vor ihm zurück. Ich dachte nichts dabei. Unser Gespräch lieferte genug Empfindungen von Einsamkeit, und ich brauchte mich bloß dem elektrisierenden Strom der Kluft anzuvertrauen und mich zu bewegen. Der Sprung war kurz und verlief fast ohne Beschwerden. Danach befand ich mich auf der anderen Seite des Betts neben der Tür zum Badezimmer. Wyatt war noch immer der Stelle zugewandt, an der ich eben gestanden hatte, so dass er mir den Rücken zukehrte.
Ich war vor ihm davongerannt.
Mein Gott, ist es möglich, noch tiefer zu sinken?
Meiner Kehle entrang sich ein wütendes Schluchzen, und ich fiel auf die Knie. Ich war der Scham, die mich würgte, hilflos ausgeliefert. Es war Scham für das, was er bereits wusste, und für all das, was ich nicht übers Herz brachte, ihm zu sagen. Ich schämte mich für das dreizehnjährige Mädchen, das einem älteren Jungen für den Preis einer Plastikkette erlaubt hatte, sie »da unten« zu berühren. Schämte mich für die ziellose Einundzwanzigjährige, die es auf den Toiletten heruntergekommener Kneipen mit Fremden getrieben hatte, um sich zu beweisen, dass sie nicht nur eine Killerin, sondern auch eine Frau war.
Tränen vernebelten mir die Sicht. Ich drückte die Augen zu und schnappte keuchend nach Luft. Verzweifelt versuchte ich, mich zusammenzureißen.
Von hinten legten sich warme Arme um mich. Ich wich vor ihnen zurück, aber er ließ nicht locker. Er hatte keine Angst vor meiner Schwäche. Anscheinend machte es ihm nichts aus, dass ich nicht die starke, unabhängige Jägerin war, zu der er mich ausgebildet hatte. Ich brach an seiner Brust zusammen und war nicht mehr in der Lage, mich gegen die Tränen zu wehren. Meine Wange ruhte an seiner Schulter, während ich schluchzte, bis mir der Kopf weh tat und sein Hemd von Tränen und Rotz durchnässt war.
Er schwieg, bis mein Körper statt unter heftigem Keuchen nur noch unter kleinen Schluchzern wie von einem Schluckauf erbebte. »Du machst mir auch Angst, weißt du?«, flüsterte er, und sein Atem strich warm über meine Wange. »Du stürmst polternd in Dinge hinein, die du nicht verstehst, und du stellst viel zu gerne meine Befehle in Frage.«
»Dann ist es …«, röchelte ich. Nachdem ich mich geräuspert hatte, setzte ich erneut an: »Dann ist es ja gut, dass ich keine Befehle mehr von dir entgegennehme.«
»Ich will dir auch keine mehr geben. Ich will dein Partner sein, Evy, nicht dein Vorgesetzter.«
»Meine Partner haben die dumme Angewohnheit, zu sterben.«
»Tja, ich bin ja schon gestorben, also können wir das auf der Liste der Dinge, die dagegensprechen, getrost abhaken.« Er strich mir sanft übers Haar, als wäre ich aus zerbrechlichem Glas. »Warum bist du eben verschwunden?«
Sag ihm die Wahrheit, verdammt. Das hat er verdient. »Ich hatte Angst.«
»Vor mir?«
»Nicht vor dir.« Ich löste mich so weit von ihm, dass ich mich umdrehen und ihn anblicken konnte. Der Ausdruck in seinem Gesicht brach mir das Herz und ließ meinen Entschluss, mein Inneres vor ihm abzuschirmen, bröckeln. Diese Mauer zu errichten war so leicht gewesen: Zwanzig Jahre der Einsamkeit, der Gleichgültigkeit, der Vernachlässigung und der Schmerzen hatten mühelos Stein auf Stein gehäuft. Doch die Mauer gegen so etwas Simples wie Liebe aufrechtzuerhalten – das war nicht so einfach.
Ich hatte es so satt. Ich hatte den Widerstreit meiner Gefühle satt und meine Angst vor der Zukunft. Warum sollte ich mich weiterhin vor etwas fürchten, das ich nicht aufhalten konnte? Da draußen hatte ich genug anderer Feinde, so viele andere Schlachtfelder, da brauchte ich nicht andauernd auch noch gegen mich selbst zu kämpfen.
Wyatt legte einen Finger unter mein Kinn und hob mein Gesicht. Ich versuchte, mich auf sein Nasenbein zu konzentrieren, um nicht in seine Augen zu schauen. Ich hatte Angst, in ihnen zu versinken und nie wieder aufzutauchen. Er sagte nichts. Schließlich gab ich nach und sah ihm doch in die Augen, auch wenn ich mich kaum halten konnte.
»Vor was dann?«, wollte er wissen.
»Vor uns.«
»Warum?«
Mein Inneres bebte, und ein Schauer lief meine Wirbelsäule entlang. Ich ballte die Hände vor seiner Brust zu Fäusten und schloss die Augen, denn ich war überzeugt, dass ich in tausend Stücke zerfallen würde, wenn ich
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