Die Rache der Jagerin
stieg, bis sie körperlich spürbar wurde, sich wie eisige Finger um mein Herz legte und es zusammenpresste.
Er will es nicht wissen. Er möchte die Fantasy-Kriegerin, die böse Kreaturen abschlachtet und keine Vergangenheit hat, die weiter als vier Jahre zurückreicht. Er will die Frau, die ihn braucht, um sie vor den furchtbaren Erinnerungen an Folter und Tod zu retten. Er will die Frau, in die er sich verliebt hat, und nicht diese Vereinigung aus zwei Menschen, zu der ich geworden bin. Er will nicht …
»Ich will es wissen«, sagte er.
Mir fiel die Kinnlade herunter, und in meinen Bauch kroch eine eigenartige Kälte. Ich hatte ihn herausgefordert, aber er hatte sich nicht bluffen lassen, und nun wollte ich es ihm nicht sagen. Denn es zu sagen hieß, dass er danach gefragt hatte. Und das wiederum bedeutete, dass er tatsächlich mich wollte. Nicht sie. Mich. Mit allen Warzen und Schrammen und meiner gespaltenen Persönlichkeit. Ich wich zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die Tür stieß, die eine unüberwindliche Barriere darstellte. Es sei denn, ich würde mich umdrehen und davonlaufen.
Sein Gesicht spiegelte die verschiedensten Gefühle wider: Überraschung, Sorge, Wut, Verzweiflung, Zögern und sogar Kummer. Ich erkannte sie alle, denn seine Mimik war mir vertraut. Diesen Vorteil besaß ich noch aus unserem alten Leben. Er dagegen hatte dieses Glück nicht.
»Ich könnte raten«, fuhr er fort. »Aufgrund der Dinge, die du in der Vergangenheit gesagt hast, und mit ein paar Einzelheiten, die ich mir dazudenke. Aber ich will nicht mehr raten, Evy. Ich habe außer dir niemanden kennengelernt, der mich nach vier Jahren noch so überraschen kann. Zumindest nicht so, wie du es tust. Wer hat dich verletzt?«
»Wer hat mich nicht verletzt?«
Er verzog das Gesicht, allerdings nicht aus Mitleid – und das war sein Glück, denn ich hätte ihm die Fresse poliert, wenn er mir mit Mitleid gekommen wäre –, sondern weil er meine verborgenen Ängste erkannte. Das war nicht das Gespräch, das ich erwartet hatte, aber es hatte auch keinen Zweck, etwas zurückzuhalten. Wenn er die Wahrheit wollte, dann sollte er sie bekommen.
»Keine Sorge«, erwiderte ich in einem etwas zu giftigen Tonfall. »Ich wurde weder von einem der häufig wechselnden Partner meiner Mutter belästigt noch von einem Wärter im Jugendknast vergewaltigt. Es ist nur so, dass ich vor den Triaden mein ganzes Leben lang nie als Mensch behandelt worden bin.«
»Es gibt nicht nur sexuellen Missbrauch, Evy«, erklärte er mit leiser Stimme, und seine Nasenflügel bebten. »Niemand hat es verdient, übersehen zu werden.«
Ich schnaubte – als wäre es mein Problem gewesen, übersehen zu werden. »O nein, sie haben mir durchaus Aufmerksamkeit geschenkt. Aber eben auf die falsche Art, und meistens war ich noch selbst dran schuld. Für die Lover meiner Mutter war ich lediglich eine Zecke, die hin und wieder gefüttert oder verprügelt werden musste. Im Jugendheim hat man in mir eine armselige Waise mit Aggressionen gesehen, die mindestens einmal im Monat in die Besenkammer gesperrt wurde, weil sie sich mit anderen Kindern schlug. Und im Knast habe ich die meiste Zeit in Einzelhaft oder auf der Krankenstation zugebracht.«
Er runzelte die Stirn, und ich konnte beinahe sehen, wie es in ihm brodelte. »Was ist mit deiner Mutter?«
»Sie ist tot. Was soll mit ihr sein?«
»Hat sie dich geliebt?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht. Gesagt hat sie es mir zum letzten Mal, als ich vier war. Ich glaube, sie hat aufgehört, irgendjemanden zu lieben – sich selbst inbegriffen –, nachdem mein Stiefvater sie verlassen hat.«
»Und diese Leere hat sie mit Heroin ausgefüllt?«
»Das weißt du doch.« Worauf wollte er damit hinaus?
»So wie du sie mit Dregs ausgefüllt hast?«
Plötzlich schien die ganze Welt zu erstarren. Mein Herz schlug so laut, dass er es hören musste. Es musste jedes andere Geräusch übertönen. Panik überkam mich, gemischt mit Furcht und Wut. Er hatte nicht das Recht, mich dermaßen zu durchschauen. Er hatte nicht das Recht, mich so gut zu kennen.
»Lass es«, zischte ich.
»Was soll ich lassen?«
»Lass es einfach!« Mir tat die Brust weh, und ich bekam nur schwer Luft. Heiße Tränen brannten mir in den Augen. Es war einfach zu viel. Ich wollte nicht analysieren, weshalb ich so war, wie ich war. Ich wollte nicht wissen, weshalb es mir schwerfiel, Leute an mich heranzulassen. Ich wollte nicht begreifen, weshalb es mich so
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