Die Rache der Jagerin
feststellen, dass der Zustand des Apartments meine Theorie stützt. Ich schließe die Tür, damit niemand hereinsehen kann, und wende mich der Hölle zu.
Jede freie Oberfläche ist mit Blut bespritzt: Boden, Wände, Tische, Stühle, Vorhänge. Sogar die Deckenlampe über der Essecke. An manche Stellen befinden sich dicke purpurne Flecken, andere sind nur leicht besprüht. Schlimmer als das Blut sind jedoch die Leichenteile. Aus einem Blumentopf ragt ein Fuß, und auf einem Schachbrett sind Hautfetzen wie Spielfiguren angeordnet. Der Küchenboden ist mit gehäckselten Innereien wie mit makabrem Konfetti bedeckt. Und über der Sofalehne baumelt ein Arm samt Hand, die nur noch durch ein paar Sehnen miteinander verbunden sind.
Ich will mir alles einprägen, aber mein Bewusstsein weigert sich und zwingt mich, wegzuschauen – auf den Boden, irgendwohin, nur nicht auf die sterblichen Überreste dieses Menschen. Dummerweise sehe ich in die falsche Richtung. Auf der Küchentheke erkenne ich einen Teller mit Süßigkeiten. Und zwischen roten Lakritzbonbons entdecke ich etwas, was mir das Abendessen wieder hochkommen lässt – die abgetrennten Hoden des Toten.
»Verdammte Scheiße«, sagt Jesse, denn auch er hat es gesehen. Er macht einen Schritt zurück und tritt mir dabei auf den Fuß, so dass ich aufschreie.
Hinter einer verschlossenen Tür dringt ein Schnaufen hervor. Augenblicklich sind wir drei in Alarmbereitschaft, so selbstverständlich, wie man die Augen zusammenkneift, wenn man in die Sonne schaut. Wir sind nicht alleine.
Durch Handzeichen gibt Ash uns Anweisungen. Mit gezogenem Messer husche ich um die Leichenteile herum und gehe links von besagter Tür in die Hocke. Ash tut es mir gleich und kauert sich an die rechte Seite von der Tür. In der Hand hält sie ihr Lieblingskatana – sie hat das verdammte Langschwert »Hex« getauft. Mit erhobener Axt geht Jesse geradewegs auf die Tür zu.
Mir läuft der Schweiß am Kinn herab. Adrenalin pumpt durch meinen Körper und lässt mein Herz wild pochen. Wir alle sind bereit, das Ungeheuer zu töten, das einem Menschen etwas Derartiges angetan hat.
Jesse tritt die Tür ein, woraufhin Ash hineinstürmt. Er folgt ihr. Auch ich eile hinterher, renne aber gegen eine Wand. Jesse ist gleich hinter der Tür stehen geblieben, genau wie Ash. Verärgert schlüpfe ich an ihnen vorbei, um zu sehen, weshalb sie innehalten.
In der Mitte eines mit Blut getränkten Betts sitzt eine Frau, die einen ausgehöhlten männlichen Leichnam umklammert hält. An dem Torso finden sich bloß noch ein Arm und ein Bein, und wo einmal die Genitalien gewesen sind, klafft ein blutiges Loch. Der Kopf wird nur von wenigen Sehnen auf den Schultern gehalten, denn der gesamte Nacken wurde angenagt. An manchen Stellen ist er durchlöchert, anderswo trieft Blut heraus. Der Mund des Mannes ist zu einem Todesschrei geöffnet, die Augen sind blind und weit aufgerissen.
Die Frau drückt den Leib an sich und schluchzt. Ihr Gesicht und ihre Kleider sind voller Blut. Offenbar kümmert es sie nicht, dass sie einen in Stücke gerissenen Leichnam umarmt, und als sie endlich zu uns aufschaut, sehe ich auch, warum. Im trüben Licht der Nachttischlampe, deren Schirm genauso mit Blut besudelt ist wie die Tapeten und der Teppich, schimmern lange Fangzähne. Sie fletscht die Zähne, trifft aber keine Anstalten, uns anzugreifen.
»Ich habe mir solche Mühe gegeben«, wimmert sie. Auch wenn ihre Worte voll menschlichen Leids sind, ist sie doch nicht menschlich. Sie ist ein Ungeheuer, sonst nichts. »Er wollte nicht zulassen, dass sie mich töteten, und ich habe mich seinetwegen so angestrengt, aber ich konnte mich nicht beherrschen.«
Ash geht nach rechts, Jesse nach links. Ich bleibe, wo ich bin, so dass wir einen Halbkreis um die Frau bilden. Nun bleibt ihr kein Weg mehr offen außer dem in die Hölle.
Die Halbvampirin hebt den Kopf des Toten an und küsst ihn auf die Lippen. Ash gibt ein würgendes Geräusch von sich. Ich nehme an, dass sie einfach nur angeekelt ist. Als ich zu ihr hinübersehe, merke ich jedoch, dass sie fassungslos auf das Bett starrt, totenbleich und mit bebendem Kinn. Mein Blick wandert zu Jesse, der eine ganz ähnliche Reaktion zeigt. Wie gern würde ich ihre Köpfe zusammenschlagen, damit sie mir sagen, was sie wissen. Doch ich spüre eine eigenartige Geduld in mir und warte ab.
»Er hat mich geliebt«, sagt die Frau mehr zu sich selbst als zu uns. »So sehr hat er mich geliebt, und nun habe
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