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Die Rache der Jagerin

Die Rache der Jagerin

Titel: Die Rache der Jagerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelly Medling
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Nächstes diesen Brief finden würde, und er konnte nicht begreifen, wieso es ihn nicht gab. In seiner Weinerlichkeit wirkte er ein bisschen wie ein Kind, und fast empfand ich Mitleid mit ihm.
    Fast.
    »Abschiedsbrief?«, wiederholte ich. »Es gibt keinen Abschiedsbrief, Leo? Deshalb hast du Alex’ Zimmer auseinandergenommen? Weil du nach einem verdammten Abschiedsbrief gesucht hast? Er hat keinen Selbstmord begangen.«
    »Man hinterlässt immer einen Abschiedsbrief. Jedes Mal, wenn ich auf Geschäftsreise ging, habe ich einen Brief hinterlassen, damit sich niemand Sorgen macht. Wenn die Kinder rausgingen und niemand zu Hause war, haben sie immer eine Notiz hinterlassen, damit wir Bescheid wussten. Man geht nicht einfach so fort.«
    Es spielte überhaupt keine Rolle, wer ich war, ich hätte genauso gut gar nicht hier sein können. Er starrte mich direkt an, und trotzdem schien er mich nicht wahrzunehmen. Es war nicht leicht für mich hinzunehmen, dass ein Mann, der so schnell in die Luft ging, so betroffen sein konnte. In seinem aufbrausenden Wesen glich er dem Stiefvater, den ich aus meinem Gedächtnis verbannt hatte und der sich einen feuchten Dreck um mich geschert hatte. Er hatte sich nur dafür interessiert, wie oft er mich in mein Zimmer einsperren konnte, um mit meiner Mutter high zu werden und sie so lange zu nageln, bis sie ihn schreiend bat, aufzuhören. Er war sehr aufbrausend gewesen und hatte bei jeder kleinsten Gelegenheit die Fäuste sprechen lassen.
    Irgendwann war er weggegangen, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen.
    »Dazu hattest du kein Recht!«, sagte ich. »Du hattest nicht das Recht, sein Zimmer dermaßen zu verwüsten. Wieso glaubst du …?«
    »Ich bin sein Vater!« Leo sprang schneller auf die Beine, als man es dem untersetzten Mann zugetraut hätte. Sein Gesicht war kirschrot, und er hatte die Fäuste geballt. Wutschnaubend stapfte er auf mich zu.
    Als er sich mir auf Armeslänge genähert hatte, hielt ich ihn auf. »Ach so? Jetzt bist du der besorgte Daddy, aber wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?«
    »Er wollte mich nicht sehen. Glaubst du etwa, ich hätte es nicht versucht?«
    »Ich habe keine Ahnung, wie sehr du es versucht hast. Allerdings wusste ich, dass es einen Grund dafür gab, dass er über dich und über seine Familie nicht gesprochen hat.« Wegen meiner eigenen Wut spürte ich, dass es die Wahrheit war. Ich fühlte es in Chalices tiefstem Inneren.
    Leo erbleichte. Noch nie hatte ich erlebt, dass ein feuerrotes Gesicht so schnell blass werden konnte. »Er hat es dir erzählt?«, fragte er mit zittriger Stimme.
    Ich wollte ja sagen und dann das Thema wechseln. Denn um mich herum versank die Stadt im Chaos. Irgendwo da draußen war Phin und spielte den Wolf im Schafspelz, und ich kam nicht aus dieser Wohnung heraus, weil ich für den Vater eines Toten die Therapeutin spielen musste. Ganz zu schweigen von der schwangeren Gestaltwandlerin in meinem Wohnzimmer, die in meine Decken gehüllt war und jeden Augenblick ein Kind bekommen konnte. Ja zu sagen bedeutete das Ende dieses Gesprächs.
    »Nein, ich sagte doch, dass er nie darüber gesprochen hat.« Was zur Hölle war bloß los mit mir?
    Leos Hände entspannten sich. »Gut, denn das ist reine Familiensache.«
    »Klingt nicht gerade, als wäre von der Familie noch viel übrig.«
    Seine Hand kam auf mich zu, und meine neuen Reflexe reagierten nicht so rasch wie mein Gehirn. Mich traf eine Ohrfeige, und mein Kopf flog nach rechts. Es tat weh, ich schmeckte Blut. Doch ich zögerte nicht, die Nettigkeit zu erwidern. Meine Knöchel krachten gegen seine Nase, und seine Brille landete schlitternd auf dem Boden. Ein leichter Blutstrom ergoss sich aus seinem Nasenloch. Er taumelte und fiel auf den Schreibtischstuhl zurück. Dabei murmelte er, dass ich ihm die Nase gebrochen hätte.
    »Rühr mich noch einmal an, und ich schlage dir ein paar Zähne aus«, warnte ich ihn. Die Stelle, an der er mich getroffen hatte, brannte. Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippe und stellte fest, dass der kleine Kratzer schnell heilen würde. »Wenn du deine Probleme auf diese Weise löst, wundert es mich nicht, dass Alex nicht über dich reden wollte.«
    Ich machte mich auf einen neuerlichen Angriff gefasst. Stattdessen sank Leo noch tiefer in den Stuhl und hielt sich mit beiden Händen die Nase. Besiegt. So aufbrausend er war, so schnell bereute er auch, was er getan hatte. Unter solchen Typen war ich aufgewachsen, und mein Bedarf daran war

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