Die Rache der Jagerin
gedeckt.
Ich zog ein weißes Unterhemd aus einer Schublade und hielt es ihm hin. Er nahm es und drückte es gegen seine Nase. Der Stoff färbte sich rot, aber er sah mich nicht an.
»Vielleicht solltest du in ein Motel gehen.«
Er zuckte zusammen. »Alex hat mich gebeten …«
»Und ich bitte dich, zu gehen. Wenn ich etwas von ihm höre, lasse ich es dich wissen.« Damit hatte ich die Garantie, nie mehr mit dem Schweinehund reden zu müssen. Ich hob seine Brille auf und reichte sie ihm. »Geh und wasch dir das Gesicht.«
Er verließ das Schlafzimmer wie ein gezüchtigtes Kind und nicht mehr wie der herrische Wüterich. Mein Blick schweifte über das Durcheinander, über die verstreuten Überbleibsel von Alex’ Leben. Mir kam der Gedanke, aufzuräumen, doch was wäre damit gewonnen gewesen? Er würde sowieso nicht mehr heimkommen. Und ich wusste nicht, wie lange ich selbst in dieser Wohnung bleiben würde. Schließlich war dies nicht mein Zuhause. Ich brauchte irgendwo eine Bleibe, wo weniger Leute wohnten, wo es keine lärmenden Nachbarkinder, aber dafür mehr Fluchtmöglichkeiten gab. So wie meine alte WG in Cottage Place.
Dort war ich vor meinem Tod zuletzt gewesen. Ich wusste nicht, ob meine Sachen noch da waren oder ob die anderen Triaden die Wohnung geräumt hatten. Falls sie es getan hatten, wäre es nun kein schlechter Ort, um sich zu verstecken. Denn die Triaden würden mich nicht für so dumm halten, an einen derart naheliegenden Ort zurückzukehren.
Falls dies hier schiefging, hatte ich damit einen Notfallplan.
Ich schloss die Tür zu Alex’ Schlafzimmer und zu der Verwüstung darin. Das alles war nicht mehr wichtig. Die Tür zum Badezimmer war zu, und heraus drang das Geräusch von fließendem Wasser. Starr wie ein Stein stand Joseph an seinem Ende des Sofas und beobachtete.
»Joseph, Leo schläft heute Nacht in einem Motel.«
Nach einem kurzen Nicken nahm er wieder seine aufrechte und wachsame Position im Sitzen ein. Wahrscheinlich würde er sich erst entspannen, wenn Leo zur Wohnungstür hinaus war.
Ich ließ mich in den gepolsterten Sessel neben dem Sofa fallen. Er war zu hart. Es fühlte sich an, als ob mein Bauch schmerzhaft durchgeknetet würde. Ich stöhnte auf, legte meinen Kopf an die Rückenlehne und schloss die Augen. Nur eine kleine Verschnaufpause. In letzter Zeit hatte ich meist nur dann geschlafen, wenn ich das Bewusstsein verloren hatte. Noch vor zwölf Stunden hatte ich mit Wyatt gescherzt, dass ich mir ein Motelzimmer nehmen und eine Woche durchratzen wollte.
Dieser Traum hatte sich erledigt. Ein paar Minuten, um mich zu sammeln, während Leo sich das Gesicht wusch – mehr war nicht drin.
Ich schreckte in einem dunklen Apartment aus dem Schlaf. Das orangefarbene Licht der Straßenlaternen drang durch Spalten und Risse am Rand des mit Plastiktüten verhängten Fensters. Es reichte, um etwas zu erkennen. Joseph hatte sich auf der Couch ausgestreckt und schlief. Selbst im Schlaf war er angespannt. Aurora dagegen lag noch immer auf dem Boden in ihrem Nest aus Kissen. Sie wirkte so entspannt, wie ihr Großvater verkrampft war.
Von der unbequemen Sitzposition tat mir der Nacken weh, und als ich aufstand, streckte ich mich erst einmal. Aus meiner Gesäßtasche erklang ein zorniges Piepen. Mein Handy meldete mir einen entgangenen Anruf. Fassungslos, dass ich den Anruf nicht gehört hatte, starrte ich auf das Display. Als ich die Uhrzeit sah, war ich noch fassungsloser: Es war bereits nach Mitternacht.
Scheiße. Wie zum Henker hatte es passieren können, dass ich fünf Stunden durchgeschlafen hatte?
Ich warf einen Blick in Alex’ Zimmer, um sicherzugehen, dass Leo gegangen war (und er war gegangen), und schloss mich dann in mein Zimmer ein. Eben begann ich, die Mailbox anzurufen, als ich innehielt, weil mir einfiel, dass ich das Passwort nicht kannte. Ich konnte nichts weiter tun, als an der Nummer abzulesen, wer mich angerufen hatte. Es war das Krankenhaus. Mein Herz pochte. Seit dem frühen Nachmittag hatte ich nicht mehr mit Wyatt gesprochen. Bestimmt machte er sich Sorgen. Ich drückte auf Rückruf.
Bereits beim zweiten Klingeln ging jemand ran. »Truman.«
Beim Klang seiner Stimme konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Hey.«
»Selber hey. Ich habe dich vor zwei Stunden angerufen.« In seinen Worten schwang mehr Sorge als Ärger mit. »Seit heute Nachmittag habe ich nichts mehr von dir gehört. Geht’s dir gut?«
»Hat Isleen dich nicht angerufen?«
»Doch.
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