Die Rache Der Nibelungen
war zu erreichen, ohne von der Wache gesehen zu werden, also musste die Wache beseitigt werden, schnell und leise.
Die linke Hand am Genick, die rechte unter dem Kinn, brauchte es nur einen kräftigen Ruck, und Nazreh hörte die Knochen seines Gegners hässlich brechen. Der Soldat sackte zusammen, ohne einen Laut von sich zu geben, und Nazreh fing seinen Speer, bevor dieser auf den Stein klapperte.
Damit war der Weg in die Burg frei. Der Orientale hatte keine Ahnung, wo genau das Königsquartier lag, aber seiner Erfahrung nach waren die meisten Burgen dieser Reiche ähnlich aufgebaut, und es gab immer Hinweise, nach denen man sich richten konnte – je näher man den Gemächern des Regenten kam, desto größer wurden die Gänge, üppiger die Teppiche und zahlreicher die Wachen.
Der direkte Weg kam nicht infrage, denn mit Sicherheit war Wulfgars Kammer gut bewacht, besonders in Kriegszeiten. Für gewöhnlich weniger gut bewacht waren die Räume über und unter den königlichen Gemächern. Nachdem Nazreh sich versichert hatte, dass der König genau dort schlief, wo er es erwartet hatte, orientierte er sich an den Treppen ein Stockwerk höher. Hier fand er Baderäume, Schreibzimmer und ein Lager mit allerlei Gerüm-pel. Einer der Baderäume hatte einen halbrunden Balkon zur Hofseite. Zwar lag das Fenster des Königsgemachs nicht genau darunter, sondern etwas zur Linken davon, aber für Nazrehs Zwecke war es gut genug. Am steinernen Waschbecken machte er das Seil fest, das er in seinem Beutel trug. Es war mit Asche dunkel gefärbt, und am Mauerwerk baumelnd konnte es nicht gesehen werden.
Nazreh nahm sich eine gute Stunde Zeit, von seiner Position aus erneut die Runden der Wachtposten zu studieren. Er hatte nicht den ganzen Weg zurückgelegt, um nun im letzten Moment dem Pfeil eines Soldaten zum Opfer zu fallen. Schließlich entschied er, dass der Augenblick günstig war, und rutschte mit drei, vier Griffen am Seil hinunter. Dann pendelte er ebenso oft hin und her, bis der Schwung ihn weit genug nach rechts trug, dass er die Laibung von Wulfgars Fenster zu fassen bekam.
Im Gemach des Königs von Xanten war es dunkel bis auf eine Nachtkerze, die für den Fall des notwendigen Stuhlgangs immer brannte. Sie war schwach genug, dass Nazreh mehr Schatten als Gegenstände sah, und es war ihm recht so.
Es war Nazreh durchaus schon passiert, dass eines seiner Opfer davongekommen war, weil es sich kurzerhand entschieden hatte, bei einer Konkubine zu nächtigen. Aber das Glück – im Gegensatz zu Siegfried mochte er es nicht Schicksal nennen – war auf seiner Seite. Wulfgar schlief grunzend in seinem Bett.
Die Klinge aus Nazrehs Gürtel, die den Kerzenschein matt reflektierte, war klein und scharf. Manche Römer, die Feldzüge im Orient hinter sich hatten, gebrauchten sie zur Rasur, auch wenn das großes Geschick erforderte – schließlich war der Zweck des Dolches, den Hals zu durchtrennen und nicht zu schonen.
Xandria war so aufgekratzt, dass sie weder an Schlaf noch Essen denken konnte, als sie in die Burg zurückkehrte. Sie wartete nicht darauf, dass ein Stalljunge kam, um sich ihres Pferdes anzunehmen, sondern ließ es einfach vor dem Thronsaal stehen.
Sie musste mit ihrem Vater sprechen!
Ihr war klar geworden, dass Siegfried nicht das Herz eines Tyrannen hatte, dass sein Wille nicht der Untergang war. Wenn Wulfgar das verstand, wenn er auf sein Leben noch etwas gab, dann
musste
es einen Ausweg geben. Es konnte nicht sein, dass beide Seiten den Krieg ablehnten und ihn doch auf dem Rücken des Volkes weiter austrugen!
Es war nicht nur die Hoffnung auf Frieden, die sie trieb.
Siegfried.
Er war alles, was sie erträumt hatte – und so viel mehr. Jeder Kuss von ihm war starker Schauer, stärker noch als die heißen Träume, mit denen sie die letzten Monate überstanden hatte. Seine Hand war weich und fest zugleich, und sie konnte sich kaum entscheiden, auf welchem Teil ihres Körpers sie die Hand am dringlichsten spüren wollte.
Ihren Mantel ließ sie fallen, als sie durch die Gänge der Xantener Burg lief. Irgendjemand würde ihn aufheben – und wenn nicht, was machte es schon?
Erstmals seit Jahren trug sie Glück im Herzen, und das Glück würde auf ihren Vater abfärben wie auf das Volk. Fürwahr – große Zeiten standen ihnen bevor!
Natürlich wusste sie, dass Siegfried auf Xanten bestand, so wie ihr Vater sich die Krone eher aufs Haupt nageln ließ, bevor man sie ihm wegnehmen konnte. Aber wenn beide
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