Die Rache des Samurai
entscheidende Hinweis, den er brauchte. Er öffnete den Mund, um Frau Shimizu nach dem Verbleib des Schwertes zu fragen, doch sie hatte noch nicht zu Ende erzählt.
»Und da habe ich den Mörder gesehen«, sagte sie mit einer dumpfen Stimme, in der nun keine Emotionen mehr lagen.
»Ihr habt den bundori- Mörder gesehen?« Vor Aufregung vergaß Sano beinahe das verschwundene Schwert. Endlich hatte er eine Mordzeugin gefunden!
Frau Shimizu nickte und zog die Nase hoch. »Er war draußen vor dem Tor, als ich dort ankam … Er packte irgendein Bündel aus. Ich konnte sehen, daß sich ein Kopf darin befand … Neben dem Tor brannten die Laternen, und ich war nur zehn Schritte von ihm entfernt. Die Glocke läutete immer noch. Ich sah, daß er sich beeilte, um so schnell wie möglich verschwinden zu können. Ich schrie, aber er hörte mich nicht … niemand hätte mich hören können, die Glocke war zu laut. Dann schaute er sich plötzlich um und … und sah mich!«
»Frau Shimizu«, sagte Sano und versuchte, seine Stimme ruhig zu halten, obwohl ihm das Herz bis zum Halse schlug und sein Mund trocken geworden war. »Was ich jetzt frage, ist sehr wichtig. Wie sah der Mörder aus? Beschreibt ihn mir, so gut Ihr könnt. Laßt Euch Zeit.«
»Ich konnte ihn nicht gut sehen. Ich glaube, er war ziemlich groß, aber ich bin mir nicht sicher … es war dunkel … er trug einen Umhang mit Kapuze, und sein Gesicht lag im Schatten … Und als er mich anschaute, habe ich mich herumgeworfen und bin losgerannt.« Sie packte Sanos Arm; ihre Nägel gruben sich in sein Fleisch. »Aber er muß mein Gesicht gesehen haben, sōsakan-sama . Wahrscheinlich glaubt er jetzt, ich würde ihn wiedererkennen, und nun sucht er nach mir. Deshalb müßt Ihr mich beschützen!«
Sano war bitter enttäuscht. Er schalt sich einen Narren, daß er mehr erwartet hatte. »Was habt Ihr dann getan?« fragte er.
»Ich hätte zurück in den Tempel gehen sollen … Ich konnte hören, wie Leute umherliefen und schrien … Bei den Mönchen wäre ich in Sicherheit gewesen. Aber ich konnte nicht mehr klar denken … deshalb bin ich in den Wald gerannt … Oh. Verzeiht mir.«
Sie nahm die Hand von seinem Arm und setzte sich auf, die Schultern gestrafft. Es war ein kläglichen Versuch, die Würde zu bewahren. »Der Mörder verfolgte mich. Ich bin gerannt, und er hatte mich beinahe schon eingeholt … aber dann stürzte er über einen Felsbrocken, und ich konnte entkommen. Ich versteckte mich in einem hohlen Baum. Dann sah ich Lichter durch den Wald kommen und hörte Männerstimmen rufen. Der Mörder rannte davon. Ich blieb bis zum Morgengrauen in meinem Versteck, bis alle verschwunden waren. Dann bin ich den ganzen Weg nach Nihonbashi gerannt.«
In bedrücktem Staunen schüttelte Sano den Kopf. Während er die Mönche und Diener im Tempel befragt und den Wald durchsucht hatte, war seine Zeugin die ganze Zeit in der Nähe gewesen. Ungewollt hatte sie den Mörder daran gehindert, den einzigen Hinweis zu beseitigen, den er am Tatort hinterlassen hatte – das Schwert. Und dann hatte die Frau es an sich genommen.
Sano machte sich auf eine weitere Enttäuschung gefaßt, als er fragte: »Was habt Ihr mit dem Schwert gemacht?«
Frau Shimizu hob in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände, ließ sie dann wieder in den Schoß fallen. »Ich habe es auf dem Heimweg bei mir getragen – für den Fall, daß ich dem Mörder begegnete. Als ich zu Hause war, wußte ich nicht, was ich mit der Waffe anfangen sollte. Zuerst wollte ich sie wegwerfen. Dann überlegte ich mir, meinen Mann zu bitten, Euch das Schwert zu geben … aber ich wollte nicht, daß er erfährt, was alles geschehen war. Deshalb habe ich das Schwert mit hierhergebracht.«
»Habt Ihr es immer noch hier? Darf ich es sehen?« Sano stand auf; er war zu unruhig, um sitzen zu bleiben.
»Ja. Ich hole es Euch.« Frau Shimizu erhob sich, doch statt ins Haus, ging sie zu dem großen Kirschbaum und steckte die Hand in ein Loch im knorrigen Stamm. »Hier war einst unser geheimes Versteck«, sagte sie in wehmütigem Tonfall. »Mein Mann hat Geschenke und Gedichte für mich in dieses Loch im Baum gelegt …« Sie blinzelte ihre Tränen fort, zog einen langen, dünnen Gegenstand hervor, der in ölgetränkte Seide gewickelt war, und reichte ihn Sano. »Ich wollte das Schwert nicht im Haus haben … schließlich ist es eine Mordwaffe. Deshalb habe ich es hier versteckt, wo nie jemand nachschaut.«
Sano stand völlig regungslos
Weitere Kostenlose Bücher