Die Rache des Stalkers
richtigen Schlüssel, das Schloss knackte und die Wohnungstür sprang auf. Anja trat über die Schwelle und schaltete das Deckenlicht ein. Sofern es Anzeichen für einen gestrigen Besucher gab, würde sich die Spurensicherung auch hier umsehen, doch erst musste sie sich Gewissheit bezüglich der Identität des Opfers verschaffen. Sie schloss die Tür und ging ins Wohnzimmer. Weder bei der Leiche noch im Wagen war ein Ausweis gefunden worden. Hatte ihn der Mörder als Souvenir mitgenommen?
Auf den verschiedenen Schränken entdeckte die Polizistin keine Fotos, die ihr eine Identifizierung ermöglicht hätten. Rasch blickte sie sich im Schlafzimmer und im Bad um, aber offensichtlich war Julia Volk keine Person, die sich gern selbst auf Bildern betrachtete. Anja blieb nichts anderes übrig, als in den Schränken nach einem Fotoalbum zu suchen.
In einer Wohnzimmerkommode wurde sie fündig. Neben einem Reisepass fielen ihr Bilder in die Hände, auf denen eine lachende Frau abgelichtet war, die sich auf einem Fest amüsierte. Obwohl der Unterschied zwischen dieser Fotografie und den Digitalkameraaufnahmen nicht größer sein konnte, gab es keinen Zweifel mehr daran, wer in der Nacht gestorben war.
Die Kommissarin setzte sich, um ihre Gedanken zu sammeln. Wieder ein Sexualmord. War Julia ebenfalls einem ihr Unbekannten begegnet oder handelte es sich bei dem Mörder um eine Person aus ihrem sozialen Umfeld? Trotz der entwürdigenden Art, wie der Täter die Leiche entsorgt hatte, sprach erfahrungsgemäß viel für die zweite Theorie. Delikte mit sexuellem Hintergrund wurden größtenteils von Bekannten der Opfer begangen.
Falls jemand aus ihrem Umfeld für die Tat verantwortlich war, fand sie vielleicht eine entscheidende Spur in dieser Wohnung.
Eine Stunde später begutachtete Anja zusammen mit Nadine die Ausbeute ihrer Suche. Am vielversprechendsten wirkten einige Briefe, die Julia als Antwort auf eine Kontaktanzeige erhalten hatte. Leider existierten die dazugehörigen Umschläge samt der Adressen der Männer nicht mehr. Gleichwohl hatte jeder von ihnen in den Briefen eine Telefonnummer vermerkt, wodurch sich ihre Identitäten problemlos feststellen ließen. Darüber hinaus gab es noch ein Adressbuch, das den Kommissarinnen helfen würde, Julias Freunde ausfindig zu machen. Darin hatten sie auch die Rufnummer und Anschrift der Eltern gefunden, denen sie die traurige Nachricht überbringen mussten. Vorher wollten sie sich jedoch bei den Nachbarn umhören, ob diese in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches bemerkt hatten.
***
Der Mann observierte die Frauen durch sein Fernglas. Seitdem die Polizei aufgetaucht war, hatte er die Wohnung im Auge behalten.
Alles war schiefgelaufen. Warum war die Schlampe nicht im Lkw der Müllabfuhr gelandet und verrottete auf einer riesigen Halde? Wieso hatte er sie nicht an dem Ort entsorgt, den er Picasso angepriesen hatte? Nur weil er in Panik geraten war, waren sie nun viel zu schnell darauf gekommen, dass sie tot war.
Er redete sich ein, dass sie ihn niemals mit Julia in Verbindung bringen konnten. Dafür war ihre gemeinsame Episode zu kurz gewesen. Eigentlich gab es keinen Grund zur Besorgnis. Trotzdem spürte er einen leichten Schweißfilm auf seinen Händen. Er legte den Feldstecher auf die Fensterbank und wischte sich die Handinnenflächen an seiner Jeans trocken. Danach beobachtete er die Frauen, bis sie die Wohnung verließen.
***
Anja klingelte an der gegenüberliegenden Tür. Nach wenigen Sekunden sah sie jemanden durch den Spion schauen. Sogleich setzte sie ihr herzlichstes Lächeln auf. Anscheinend wirkte es, denn eine ältere Hausbewohnerin öffnete ihr. Die Kommissarin zeigte ihr den Dienstausweis.
»Ich habe eine Frage wegen Ihrer Nachbarin.«
»Frau Volk?«
»Genau.«
»Da weiß ich nichts. Sie ist eine angenehme, ruhige Person.«
»Gab es in den vergangenen Tagen einen Streit, bei dem Sie zufällig Zeuge wurden? Oder einen regelmäßigen Besucher, der Ihnen aufgefallen ist?«
Die alte Dame schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich mich erinnern könnte. Hat Frau Volk etwas angestellt?«
Anja verneinte, bedankte sich für die Auskunft und verabschiedete sich.
Die wenigen anderen Mieter, die sie zu dieser Uhrzeit im Haus antrafen, halfen ihnen genauso wenig weiter. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Daher beschlossen die beiden Polizistinnen, zu Julias Eltern zu fahren. Während sie die Adresse ansteuerten, klingelte Anjas Handy und eine Präsidiumsnummer
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