Die Radleys
Dem einen, dessen Sehnsucht sie nie abschalten kann.
Aber ihre Augen öffnen sich, und sie ist wieder da. In ihrer Küche an einem Montagnachmittag, umgeben von all diesen Gegenständen. Der Filterkanne, dem Toaster, der Kaffeekanne. Triviale Dinge, aber sie sind Teil ihrer Welt und nicht seiner. Teile einer Welt, die sie bis Mitternacht verlieren oder retten kann. Sie stößt Will von sich, der ernst wird.
»Du sehnst dich nach mir, Helen. Solange ich lebe, wirst du dich nach mir sehnen müssen.« Sie hört, wie er tief Luft holt. »Du kapierst es nicht, oder?«
»Was soll ich kapieren?«, fragt sie, den Blick auf das Brotbrett gesenkt. Auf die Krümel, die sich wie eine unbekannte Galaxie verteilen. Sie verschmelzen mit dem Holz des Bretts.
Sie hat Tränen in den Augen.
»Du und ich«, sagt er. »Wir haben einander geschaffen.« Er schlägt sich mit der Hand vor die Brust. »Glaubst du, ich will so sein? Du hast mir keine Wahl gelassen.«
»Bitte …«, sagt sie.
Aber er ignoriert sie. »Seit siebzehn Jahren streife ich durch diese eine Nacht in Paris. Ich wäre zurückgekommen, aber ich wurde nie gebeten. Außerdem hatte ich nicht vor, mit einem blauen Auge abzuhauen. Nicht schon wieder. Aber es hat eine Menge gekostet, du weißt schon, wegzubleiben. Eine Menge Blut. Viele schlanke, junge Hälse. Aber es ist nie genug. Ich kann dich nicht vergessen. Ich bin du. Du bist die Traube, und ich bin der Wein.«
Sie zwingt ihren Atem zur Ruhe, versucht, Kraft zu sammeln. »Ich weiß«, sagt sie, während sie den Messergriff fester packt. »Es tut mir leid. Und es ist wahr. Ich will … ich will, dass du für mich blutest. Ich will wieder von dir kosten. Du hast recht. Ich sehne mich nach dir.«
Er sieht verblüfft aus, dann seltsam verletzlich. Wie ein bösartiger Hund, der nicht weiß, ob er gleich geschlachtet wird.
»Bist du sicher?«, fragt er.
Helen ist sich nicht sicher. Aber wenn sie es hinter sich bringen soll, wird sie kaum länger warten können. Das ist der Moment.
»Ich bin sicher.«
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DER KUSS
Das Blut spritzt aus Wills Handgelenk, läuft ihm über den Unterarm und tropft auf den cremefarbenen Steinfußboden der Küche. Helen weiß, dass sie nie etwas Schöneres gesehen hat. Sie würde sich bereitwillig auf alle viere niederlassen und es vom Boden auflecken, aber das ist nicht nötig, weil das Blut direkt vor ihr aus seinem Handgelenk strömt. Ihr ins Gesicht und in den Mund, befriedigender als ein Wasserspeier an einem glühend heißen Tag.
Sie saugt heftig, wohl wissend, dass die von ihr verursachte Wunde bereits wieder heilt. Und während sie das Blut in sich aufsaugt, fühlt sie sich so erleichtert, als wäre der Damm, den sie über die Jahre um sich herum aufgebaut hat, um sich vor ihren Gefühlen zu schützen, weit aufgebrochen, sodass die Lust wie ein Wasserfall in Kaskaden durch ihren Körper strömen kann. Sie gibt sich hin und weiß, was sie immer schon gewusst hat. Sie will ihn. Sie will die Verzückung, die nur er ihr geben kann, und will ihm die gleiche Lust verschaffen, die sie selbst empfindet, also reißt sie sich los und küsst ihn stürmisch, spürt, wie ihre Reißzähne seine Zunge ritzen und seine Zähne ihre Zunge und das Blut in Strömen aus ihren vereinigten Mündern fließt. Und sie weiß, dass Clara jederzeit nach unten kommen und sie zusammen sehen kann. Trotzdem küsst sie diesen wunderbaren, abscheulichen Mann weiter, der all die Jahre ein Teil von ihr war, durch jede Ader ihres Körpers geflossen ist.
Sie spürt, wie seine Hand das Fleisch unter ihrer Bluse berührt, und er hat recht, sie weiß, wie recht er hat.
Sie ist er und er ist sie.
Haut an Haut.
Blut im Blut.
Der Kuss endet, und er nähert sich ihrem Hals und beißt sie, und während die Wonne weiter durch ihren Körper fließt, das leere Gefäß füllt, das sie gewesen ist, weiß sie, dass sie jetzt am Ende angekommen ist. Besser kann es nicht werden. Und mit der Lust kommt eine tödlich keuchende Trauer über sie. Die Trauer über die Erinnerung an eine Sehnsucht. Die Trauer über ein zerknittertes Foto. Sie schlägt die Augen auf, greift nach dem Brotmesser und zielt von hinten mit der waagerechten Klinge auf seinen Nacken.
Zentimeter für Zentimeter schiebt sie die Klinge näher, wie den Bogen an eine Violine, aber den letzten Schritt schafft sie nicht. Sie könnte sich selbst tausendmal leichter umbringen als ihn, denn jeder Funken Hass, den sie für ihn empfindet, scheint ihre tiefe Liebe
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