Die Radleys
in den Zeiten vor der Sanierung des Viertels, für sie der romantischste Ort der Welt war. Die tristen, verregneten Straßen Süd-Londons hatten leise von ihrer Liebe gesummt. Venedig oder Paris hatten sie nie gebraucht. Aber irgendwas war passiert. Sie hatten etwas verloren. Peter wusste das, wusste aber nicht, wie er es zurückholen sollte.
Ein Wagen, in dem ein Paar sitzt, biegt in den Parkplatz ein. Er glaubt, in der Frau eine Bekannte von Helen zu erkennen. Jessica Gutheridge, die Designerin. Und er weiß genau, dass sie auch zu Helens Lesekreis gehört. Persönlich kennt er sie noch nicht. Helen hatte sie ihm vor Jahren auf einem Weihnachtsmarkt in York gezeigt. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass sie ihn erkennt, aber trotzdem ist das eine weitere Sorge, die den Abend riskant macht. Er lässt sich etwas tiefer in den Sitz sinken, als die Gutheridges aus dem Auto steigen. Sie drehen sich nicht zu ihm um, als sie zum Pub gehen.
Farley ist zu nah, denkt Peter. Sie hätten sich einen Ort aussuchen sollen, der weiter weg ist.
Er hat von all dem die Nase voll. Von dem Gefühl beschwingter Fröhlichkeit, das sich eingestellt hatte, nachdem er von Lorna getrunken hatte, ist nichts geblieben. Da ist nur noch die nackte Versuchung, ihrer schimmernden Hülle beraubt.
Das Problem ist, dass er Helen wirklich liebt. Er hat sieimmer geliebt. Und wenn er das Gefühl hätte, dass sie ihn ebenfalls liebt, wäre er jetzt nicht hier, mit oder ohne Blut.
Aber sie liebt ihn nicht. Und deshalb wird er da reingehen und mit Lorna reden, und sie werden lachen und sich die schreckliche Musik anhören, und nach ein paar Drinks werden sie sich fragen, ob das irgendwo hin führt. Und es ist durchaus möglich, dass es das tut, und eines Abends in naher Zukunft oder vielleicht sogar heute Nacht werden sie sich wie die Teenager befummeln, in diesem Auto oder in einem Durchgangshotel oder vielleicht sogar in Nummer neunzehn, und er wird mit dem Anblick von ihrer Nacktheit konfrontiert sein.
Der Gedanke versetzt ihn in Panik. Er greift nach dem Handbuch für Abstinenzler auf dem Armaturenbrett, das er ohne zu fragen aus Rowans Zimmer entwendet hat.
Er findet das Kapitel, nach dem er sucht: »Sex ohne Blut: Wichtig sind die äußeren Umstände.« Er liest über Atemtechniken, Konzentration auf Hautkontakt und diverse Blutunterdrückungsmethoden. »Wenn Sie spüren, dass Wandlungen auftreten, während Sie mit dem Vorspiel oder dem Kopulationsakt beschäftigt sind, schließen Sie die Augen und achten Sie darauf, durch den Mund und nicht durch die Nase zu atmen, um sinnliche und imaginative Stimulationen zu begrenzen … Wenn all das nicht hilft, ziehen Sie sich ganz aus dem Akt zurück und sagen Sie das Abstinenzler-Mantra laut auf, wie es im vorherigen Kapitel vorgestellt wurde: ›Ich bin [IHR NAME] und ich habe meine Instinkte unter Kontrolle.‹«
Wieder blickt er auf die Straße. Noch ein Wagen fährt vorbei, und dann, ein oder zwei Minuten später, ein Bus. Er ist sich ziemlich sicher, das verzweifelte Gesicht seines Sohnes am Fenster gesehen zu haben. Hatte Rowan ihn bemerkt? Er hatte furchtbar ausgesehen. Wusste er Bescheid?Der Gedanke ängstigt ihn, und eine Veränderung geht in ihm vor. Aus flüssigem Vergnügen wird steinharte Pflicht. Er lässt den Motor an und fährt nach Hause.
»Ich bin Peter Radley«, murmelt er erschöpft. »Und ich habe meine Instinkte unter Kontrolle.«
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THIRSK
Rowan und Eve sitzen in Thirsk im Kino, elf Kilometer von zu Hause entfernt. Rowan hat die Flasche mit dem Blut in seiner Tasche. Bisher hat er aber noch nichts davon getrunken. An der Bushaltestelle war er versucht gewesen, als er ein weiteres Graffito über sich entdeckte: Rowan RADLEY IST EIN FREAK. (Wie bei der gleichlautenden Äußerung am vernagelten Postamt handelte es sich um Tobys Handschrift, der sich hier jedoch mehr Zeit gelassen und sich für würfelförmige Buchstaben in 3D entschieden hatte.) Aber dann war Eve gekommen und der Bus auch und hatte sie hierhergebracht. Er sitzt still da, mit dem Wissen, wer sein Vater ist, und all den anderen Lügen seiner Mutter im Bauch.
Mit dem Film, den sie sich ansehen, kann er nichts anfangen. Zufrieden betrachtet er Eve, wie ihre Haut gelb und orange und rot aufleuchtet, wenn auf der Leinwand wilde Explosionen erblühen.
Solange er sie anschaut, verlieren die Briefe seiner Mutter ihre Relevanz, und da ist nur noch Eves Anblick und Eves Geruch. Gebannt starrt er auf den dunklen
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