Die Radleys
mit
ihrer Familie in einem Ferienhaus in der Dordogne aufhielt. Wenn sie die heutige
Sitzung ausfallen ließe, kurzfristig, könnte dies einen leichten Missklang oder
Verdacht nach sich ziehen – der in der Orchard Lane geparkte Campingbus ist schon
Missklang genug – sodass sie sich dagegen entscheidet.
Sie macht sich also fertig und schlendert zu Nicola Baxter
ans südliche Ende des Dorfes. Die Baxters wohnen in einer großen, ausgebauten
Scheune mit einer geschwungenen Auffahrt und einem Garten voller Azaleen, der in ein
anderes Zeitalter zu gehören scheint als die Inneneinrichtung mit ihrer
rustikal-futuristischen Küche und den kubistischen Sofas ohne Armlehnen.
Als Helen eintrifft, sitzen bereits alle da und essen
Haferplätzchen und trinken Kaffee, die aufgeschlagenen Bücher im Schoß. Sie
unterhalten sich angeregter als üblich, und wie Helen zu ihrer Verblüffung bald
feststellt, dreht sich das Gespräch nicht um Wenn
der letzte Spatz singt.
»Ach, Helen, ist das nicht entsetzlich?«, fragt Nicola undstreckt ihr einen gigantischen, mit Krümeln übersäten Teller
mit einem einsamen Haferplätzchen entgegen. »Diese Sache mit Stuart Harper.«
»Ja. Ja, schrecklich. Ganz entsetzlich.«
Helen mag Nicola eigentlich recht gern, und normalerweise
sind sie in Bezug auf die Bücher, die sie lesen, stets einer Meinung. Sie war die
Einzige, die Helen beipflichtete, dass Anna Karenina ihre Gefühle für den Grafen
Vronski nicht unter Kontrolle hat und Madame Bovary im Grunde eine sympathische Frau
ist.
Sie hat etwas an sich, wovon sich Helen stets angezogen
fühlt, als hätte auch sie sich von einem Teil ihres Ichs verabschiedet, um ihr
jetziges Leben zu leben.
Manchmal entdeckt Helen an Nicola mit ihrer blassen Haut
und dem unsicheren Lächeln und den traurigen Augen sogar so viel von sich selbst,
dass sie sich fragt, ob sie vielleicht das gleiche Geheimnis teilen. Sind die Baxters ebenfalls abstinente
Vampire?
Natürlich hat Helen diese Frage noch nie direkt gestellt.
(»Und, Nicola, hast du schon mal jemandem in den Hals gebissen und ihm das Blut
ausgesaugt, bis sein Herz aufgehört hat zu schlagen? Übrigens, deine Haferplätzchen
sind köstlich.«) Und Nicolas Kinder hat sie auch noch nicht kennengelernt, zwei
Mädchen, die ein Internat in New York besuchen, oder ihren Ehemann, einen
Architekten, der angeblich ständig in irgendwelchen hochwichtigen
Gemeindeausschüssen sitzt und in Liverpool oder London zu tun hat. Aber über einen
langen Zeitraum hatte Helen gehofft, dass sich Nicola eines Tages zu ihr setzen und
ihr erzählen würde, wie sie seit zwanzig Jahren gegen ihre Blutsucht ankämpft, die
ihr jeden Tag ihres Lebens zur Hölle macht.
Helen wusste, dass dies vermutlich nicht mehr als eine
tröstliche Fantasie war. Schließlich bildeten Vampire selbstin
der Großstadt nur eine winzige Minderheit der Bevölkerung, und die
Wahrscheinlichkeit, dass in ihrem Lesekreis einer saß, war äußerst gering. Aber es
war nett gewesen, daran zu glauben, dass es möglich sein könnte, und deshalb hatte
sie sich vermutlich in Gedanken daran festgehalten wie an einem Lotterielos.
Da Nicola wegen des verschwundenen Jungen jedoch genauso
schockiert reagiert wie alle anderen, weiß Helen, dass sie auf sich gestellt ist.
»Ja«, sagt Alice Gummer auf einem der futuristischen Sofas
gerade, »es kam in den Nachrichten. Hast du es gesehen?«
»Nein«, sagt Helen.
»Sie haben es heute Morgen gebracht. Auf Look North . Ich hab’s beim Frühstück
teilweise mitgekriegt.«
»Ach ja?«, sagt Helen. Die Radleys hatten beim Frühstück
wie üblich den Fernseher nebenbei laufen lassen, und da war nichts erwähnt worden.
Dann sagt Lucy Bryant etwas, aber sie hat den Mund so voll
mit Haferkeksen, dass Helen sie erst nicht versteht. Irgendwas über einen
Polizisten? Einen Polizisten?
»Wie bitte?«
Nicola hilft aus, übersetzt an Lucys Stelle, und diesmal
hätten die Worte nicht deutlicher sein können.
»Sie haben seine Leiche gefunden.«
Die Panik, die Helen in diesem Moment überkommt, kann sie
nicht verbergen. Sie überfällt sie so plötzlich und von allen Seiten und zerstört
jede Hoffnung. »Was?«
Jemand antwortet. Sie hat keine Ahnung, zu wem die Stimme
gehört. Sie ist einfach da, wirbelt ihr durch den Kopf wie eine Plastiktüte im Wind.
»Ja, offensichtlich ist sie vom Meer ans Ufer gespült
worden oder so. In
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