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Die Radleys

Titel: Die Radleys Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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Entsetzlich.«
    Eine ominöse Stille. Peter hört Elaines Stuhl quietschen, als sie sich zu ihm dreht. »Ich wette, Ihre Kinder kannten ihn, Doktor Radley?«
    Doktor Radley.
    Seit über zehn Jahren kennt er Elaine und arbeitet mit ihr zusammen, aber für sie ist er nach wie vor Doktor Radley, obwohl er ihr unzählige Male gesagt hat, dass es okay wäre, ihm sogar lieber, wenn sie ihn Peter nennt.
    »Das weiß ich nicht«, sagt er, vielleicht ein bisschen zu schnell. »Ich glaube eigentlich nicht.«
    »Ist das nicht schrecklich, Doktor? Wenn man bedenkt, dass es im Nachbardorf passiert ist.«
    »Ja, aber ich bin mir sicher, dass er wieder auftauchen wird.«
    Elaine scheint das nicht gehört zu haben. »Es gibt so viel Schlechtigkeit in der Welt, finden Sie nicht? Überall passieren schlimme Sachen.«
    »Ja, so ist es wohl.«
    Elaine starrt ihn entgeistert an. Die Patientin – eine Frau mit langen, spröden Haaren, wie eine ältere, morbide und beleibte Mona Lisa in einer Strickjacke in ausgeblichenen Regenbogenfarben – sieht ihn ebenfalls an. Er erkennt in ihr Jenny Crowther, die Frau, die samstagmorgens den Bastelkurs im Rathaus geleitet hat. Vor sieben Jahren hatte sie bei ihnen zu Hause angerufen und Helen in besorgtem Ton von Rowans Göttergestalt erzählt. Seit diesem Vorfall hat sie ihn auf der Straße nie wieder gegrüßt, sondern immer nur so ausdruckslos angelächelt, wie sie es jetzt auch gerade tut.
    » Überall schreckliche Sachen«, wiederholt Elaine nachdrücklich.
    Peter unterliegt einem plötzlichen Anfall von Klaustrophobie und erinnert sich aus irgendeinem Grund an die vielen Zäune, die Helen im Lauf der Jahre gemalt hat. Sie sind eingesperrt. Deshalb malt sie sie immer wieder. Sie sind eingesperrt zwischen den lächelnden, ausdruckslosen Gesichtern und all dem desinformierten Getratsche.
    Er kehrt ihnen den Rücken zu und entdeckt einen gepolsterten Umschlag auf einem Stapel mit Briefen, der zum Krankenhaus geschickt werden soll. Eine Blutprobe.
    »Man möchte die Kinder am liebsten einschließen, nicht wahr, Doktor Radley?«
    »Oh«, sagt Peter, der kaum zuhört, was Elaine gerade sagt. »Ich denke, man kann schon ein bisschen paranoid werden, wenn so was passiert …«
    Das Telefon klingelt und Elaine nimmt ab, während sich Jenny Crowther im Wartebereich auf einem der orangefarbenen Plastikstühle niederlässt, mit dem Rücken zu ihm.
    »Nein«, sagt Elaine mit einem autoritären Lächeln, das dem Patienten am anderen Ende der Leitung gilt, »tut mir leid, aber wenn Sie einen kurzfristigen Termin haben wollen, müssen Sie zwischen acht Uhr dreißig und neun Uhr bei uns anrufen … ich fürchte, Sie müssen bis morgen warten.«
    Während Elaine weiterspricht, ertappt sich Peter dabei, wie er an dem wattierten braunen Umschlag schnuppert. Sein Herz schlägt schneller und schnurrt wie ein Höchstgeschwindigkeitszug.
    Er schielt zu Elaine hinüber, die nicht auf ihn achtet. Dann nimmt er den Umschlag an sich, so unauffällig wie möglich, zusammen mit der übrigen Post, und geht in sein Sprechzimmer.
    Drinnen sieht er als Erstes auf die Uhr.
    Fünf Minuten bis zu seinem nächsten Patienten.
    Schnell öffnet er den Umschlag mit den Plastikphiolen und dem blassblauen Formular. Das Formular bestätigt, was ihm seine Nase bereits verraten hat, dass dieses Blut von Lorna Felt stammt.
    Eine magnetische, beinahe gravitätische Kraft geht von diesem Blut aus.
    Nein. Ich bin nicht mein Bruder.
    Ich bin stark.
    Ich kann widerstehen.
    Er bemüht sich um jene Haltung, um die er sich seit nunmehr fast zwanzig Jahren bemüht. Versucht, in dem Blut nicht mehr zu sehen, als ein Arzt darin sehen sollte, ein Gemisch aus Plasma und Proteinen und roten und weißen Zellen.
    Er denkt an seinen Sohn und an seine Tochter, und irgendwie schafft er es, die drei Röhrchen wieder zurückzuschieben. Er versucht, den Umschlag wieder zuzukleben, doch der ist bereits wieder auf, als er sich auf seinen Stuhlsetzt. Die schmale dunkle Öffnung ist der Eingang zu einer Höhle, die unbeschreibliche Angst oder unendliche Lust enthält.
    Oder vielleicht sogar beides.

[Menü]
    LESEKREIS
    An jedem ersten Montag im Monat trifft sich Helen mit
     ihren beschäftigungslosen Freundinnen reihum zu einem Lesekreis und einem
     spätvormittäglichen Imbiss, was dazu dienen soll, dass die Woche gut losgeht.
    An diesen Treffen nimmt Helen inzwischen seit gut einem
     Jahr teil, und sie hat erst einmal gefehlt – weil sie sich zu diesem Zeitpunkt

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