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Die Radleys

Titel: Die Radleys Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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der Nähe von Whitby.«
    »Nein«, sagt Helen.
    »Geht es dir nicht gut?« Die Frage wird von mindestens zwei
     Personen gleichzeitig gestellt.
    »Doch, alles in Ordnung. Ich habe bloß noch nicht
     gefrühstückt.«
    Und die Stimmen schwirren weiter, hallen und überschlagen
     sich in der riesigen Scheune, wo früher einmal Schafe geblökt haben mögen.
    »Komm, setz dich. Iss einen Haferkeks.«
    »Möchtest du ein Glas Wasser?«
    »Du bist ja kreidebleich.«
    Mitten in all dem versucht sie, vernünftig darüber
     nachzudenken, was diese Nachricht bedeutet. Eine Leiche, übersät mit Bisswunden und
     der DNA ihrer Tochter, befindet sich in den Händen der Polizei. Wie konnte Peter so
     dämlich sein? Früher tauchten die Leichen nie wieder auf, wenn er sie ins Meer
     geworfen hatte. Sie waren so weit draußen gewesen, dass sie sich keine Sorgen machen
     mussten.
    Sie stellt sich vor, wie im Moment gerade die Autopsie
     durchgeführt wird, von einem Heer von Forensik-Experten und mit hochrangigen
     Polizeibeamten. Gegen die hätte sogar Will mit seinem Blutdenken keine Chance.
    »Alles in Ordnung. Mir wird bloß ab und zu mal ein
     bisschen schwindelig. Aber sonst ist alles in Ordnung, wirklich.«
    Sie sitzt jetzt auf dem Sofa, fixiert mit den Augen starr
     den durchsichtigen Wohnzimmertisch und die große leere Platte, die wie im Weltall
     darüber zu schweben scheint.
    Während sie vor sich hinstiert, wird ihr klar, dass sie
     jetzt Wills Blut nicht widerstehen könnte. Es würde ihr die Kraft geben, die sie
     braucht, um die nächsten Minuten zu meistern. Aber allein bei dem Gedanken fühlt sie
     sich eingesperrter denn je.
    Das Gefängnis ist sie selbst.
    Und der Körper, in dem sich ihr Blut mit seinem vermischt.
    Dennoch schafft sie es irgendwie, gestärkt durch süße,
     klebrige, nicht rote Haferflocken, sich zusammenzureißen.
    Sie fragt sich, ob sie nach Hause gehen soll, mit der
     Ausrede, sie sei krank. Aber bevor sie sich entschieden hat, was jetzt zu tun ist,
     merkt sie, dass sie dasitzt und zuhört und sich schließlich an der Diskussion über
     das Buch beteiligt, obwohl sie kaum Zeit gefunden hat, darin zu lesen.
    Wenn der letzte Spatz singt stand im
     vergangenen Jahr auf der Vorschlagsliste für den Booker Prize, ein Roman, der Mitte
     des zwanzigsten Jahrhunderts in China spielt – eine Liebesgeschichte zwischen der
     Tochter eines Bauern, die Vögel liebt, und einem ungebildeten Landarbeiter, der Maos
     Anordnung ausführt, alle Spatzen auszurotten. Jessica Gutheridge, deren handgemalte
     Glückwunschkarten Helen immer zu Weihnachten und an Geburtstagen verschickt, hat den
     Autor im vergangenen Jahr auf dem Festival in Haye on Wye kennengelernt und kann gar
     nicht aufhören, allen von diesem unglaublichen Ereignis vorzuschwärmen – »Ach, es
     war einfach wunderbar, und ihr werdet nicht glauben, wer in der Reihe vor uns saß«
     –, während sich Helen krampfhaft um Contenance bemüht.
    »Und, Helen, wie findest du das Buch denn?«, wird sie an
     einer Stelle von irgendjemandem gefragt. »Was hältst du von Li-Hom?«
    Sie bemüht sich, ein interessiertes Gesicht aufzusetzen.
     »Mir hat er leidgetan.« Jemand anderes, Nicola, beugt sich vor und scheint etwas
     überrascht, dass Helen ihre Meinung an dieser Stelle nicht teilt. »Was, nach allem,
     was er getan hat?«
    »Ich finde nicht … ich gehe davon aus …« Die ganze Gruppe
     sieht sie an und erwartet weitere Ausführungen. Sie tut ihr Bestes, um Autopsien und
     Armbrüste aus ihrenGedanken zu verbannen. »Tut mir leid, ich
     finde einfach nicht, dass er …« Sie vergisst den Rest des Satzes. »Ich glaube, ich
     muss zur Toilette.«
    Ungeschickt steht sie auf, stößt mit dem Schienbein an den
     Wohnzimmertisch und lässt sich den Schmerz und alles andere nicht anmerken, als sie
     den Raum verlässt und das Gästebad der Baxters aufsucht. Sie betrachtet ihr
     gespenstisches Spiegelbild in einer der Glaswände der Dusche und versucht, ihren
     Atem zu beruhigen, doch ihre Gedanken schreien schrill auf – LEICHE! NACHRICHTEN!
     POLIZEI! CLARA! WILL!
    Sie zieht ihr Handy aus der Tasche und wählt Peters
     Praxisnummer. Während sie dem schwachen Tuten am Ohr lauscht, betrachtet sie die
     ordentliche Reihe rein pflanzlicher Bio-Haut- und Haarprodukte und sieht einen
     flüchtigen Moment lang unwillkürlich die nackten Körper vor sich, die diese Produkte
     benutzen, um ihren natürlichen Eigengeruch zu überdecken. Sie schließt die

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