Die Radleys
der Nähe von Whitby.«
»Nein«, sagt Helen.
»Geht es dir nicht gut?« Die Frage wird von mindestens zwei
Personen gleichzeitig gestellt.
»Doch, alles in Ordnung. Ich habe bloß noch nicht
gefrühstückt.«
Und die Stimmen schwirren weiter, hallen und überschlagen
sich in der riesigen Scheune, wo früher einmal Schafe geblökt haben mögen.
»Komm, setz dich. Iss einen Haferkeks.«
»Möchtest du ein Glas Wasser?«
»Du bist ja kreidebleich.«
Mitten in all dem versucht sie, vernünftig darüber
nachzudenken, was diese Nachricht bedeutet. Eine Leiche, übersät mit Bisswunden und
der DNA ihrer Tochter, befindet sich in den Händen der Polizei. Wie konnte Peter so
dämlich sein? Früher tauchten die Leichen nie wieder auf, wenn er sie ins Meer
geworfen hatte. Sie waren so weit draußen gewesen, dass sie sich keine Sorgen machen
mussten.
Sie stellt sich vor, wie im Moment gerade die Autopsie
durchgeführt wird, von einem Heer von Forensik-Experten und mit hochrangigen
Polizeibeamten. Gegen die hätte sogar Will mit seinem Blutdenken keine Chance.
»Alles in Ordnung. Mir wird bloß ab und zu mal ein
bisschen schwindelig. Aber sonst ist alles in Ordnung, wirklich.«
Sie sitzt jetzt auf dem Sofa, fixiert mit den Augen starr
den durchsichtigen Wohnzimmertisch und die große leere Platte, die wie im Weltall
darüber zu schweben scheint.
Während sie vor sich hinstiert, wird ihr klar, dass sie
jetzt Wills Blut nicht widerstehen könnte. Es würde ihr die Kraft geben, die sie
braucht, um die nächsten Minuten zu meistern. Aber allein bei dem Gedanken fühlt sie
sich eingesperrter denn je.
Das Gefängnis ist sie selbst.
Und der Körper, in dem sich ihr Blut mit seinem vermischt.
Dennoch schafft sie es irgendwie, gestärkt durch süße,
klebrige, nicht rote Haferflocken, sich zusammenzureißen.
Sie fragt sich, ob sie nach Hause gehen soll, mit der
Ausrede, sie sei krank. Aber bevor sie sich entschieden hat, was jetzt zu tun ist,
merkt sie, dass sie dasitzt und zuhört und sich schließlich an der Diskussion über
das Buch beteiligt, obwohl sie kaum Zeit gefunden hat, darin zu lesen.
Wenn der letzte Spatz singt stand im
vergangenen Jahr auf der Vorschlagsliste für den Booker Prize, ein Roman, der Mitte
des zwanzigsten Jahrhunderts in China spielt – eine Liebesgeschichte zwischen der
Tochter eines Bauern, die Vögel liebt, und einem ungebildeten Landarbeiter, der Maos
Anordnung ausführt, alle Spatzen auszurotten. Jessica Gutheridge, deren handgemalte
Glückwunschkarten Helen immer zu Weihnachten und an Geburtstagen verschickt, hat den
Autor im vergangenen Jahr auf dem Festival in Haye on Wye kennengelernt und kann gar
nicht aufhören, allen von diesem unglaublichen Ereignis vorzuschwärmen – »Ach, es
war einfach wunderbar, und ihr werdet nicht glauben, wer in der Reihe vor uns saß«
–, während sich Helen krampfhaft um Contenance bemüht.
»Und, Helen, wie findest du das Buch denn?«, wird sie an
einer Stelle von irgendjemandem gefragt. »Was hältst du von Li-Hom?«
Sie bemüht sich, ein interessiertes Gesicht aufzusetzen.
»Mir hat er leidgetan.« Jemand anderes, Nicola, beugt sich vor und scheint etwas
überrascht, dass Helen ihre Meinung an dieser Stelle nicht teilt. »Was, nach allem,
was er getan hat?«
»Ich finde nicht … ich gehe davon aus …« Die ganze Gruppe
sieht sie an und erwartet weitere Ausführungen. Sie tut ihr Bestes, um Autopsien und
Armbrüste aus ihrenGedanken zu verbannen. »Tut mir leid, ich
finde einfach nicht, dass er …« Sie vergisst den Rest des Satzes. »Ich glaube, ich
muss zur Toilette.«
Ungeschickt steht sie auf, stößt mit dem Schienbein an den
Wohnzimmertisch und lässt sich den Schmerz und alles andere nicht anmerken, als sie
den Raum verlässt und das Gästebad der Baxters aufsucht. Sie betrachtet ihr
gespenstisches Spiegelbild in einer der Glaswände der Dusche und versucht, ihren
Atem zu beruhigen, doch ihre Gedanken schreien schrill auf – LEICHE! NACHRICHTEN!
POLIZEI! CLARA! WILL!
Sie zieht ihr Handy aus der Tasche und wählt Peters
Praxisnummer. Während sie dem schwachen Tuten am Ohr lauscht, betrachtet sie die
ordentliche Reihe rein pflanzlicher Bio-Haut- und Haarprodukte und sieht einen
flüchtigen Moment lang unwillkürlich die nackten Körper vor sich, die diese Produkte
benutzen, um ihren natürlichen Eigengeruch zu überdecken. Sie schließt die
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