Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)
eine ständig breiter werdende Küste hinabzusteigen, waren Wochen vergangen, und ihre jetzige Position war nicht viel südlicher als Mogadischu. Zweimal hatten sie sich einer Karawane angeschlossen, einmal kurz in einer Stadt Aufenthalt gehabt, die nur aus Glas und Seide bestand, und einmal in einem Feld aus violetten Blumen genächtigt, die so hoch wie ein Schiffsmast waren und sich in der Nacht sanft wiegend zu ihnen herabbeugten. Paolina wurde in ihren Träumen der nächsten Tage auf merkwürdige Weise von Zähnen verfolgt.
Nun stand sie auf einer stetig ansteigenden Hügelkette, auf deren einen Seite der Dschungel lauerte. Im Westen erhob sich ein Berg, der fast so hoch wie die Mauer an ihrer jetzigen Position war. Afrika lag wieder einmal unter ihr. Der Berg schien sich von a Murado wegzubewegen, als ob an dieser Stelle das Gefüge der Schöpfung auseinandergerissen worden wäre. Sie hatte so etwas noch nie gesehen.
Ihre Überzeugung, dass sie sich in die Richtung bewegt hatten, die ihnen der Engel auf der Mauer vorgegeben hatte, geriet ins Wanken. Sie hatte sich so sehr beeilt, aber es dämmerte ihr langsam, dass sie ihr Ziel nicht kannte. »Wo gehen wir jetzt hin?«, fragte sie Ming.
Der Chinese hatte während ihrer kurzen Pause die Gelegenheit genutzt, in den feuchtkalten Schatten des Geröllfeldes unmittelbar zu ihrer Linken nach Pilzen zu suchen. Sein Gesicht tauchte hinter einem flechtenüberwachsenen Brocken auf: »Unten, ha?«
»Aber wohin dann? Wir sollten doch auf jemanden treffen?«
»Viel Zeit hinter uns.« Er zuckte mit den Achseln, und sein Gesicht nahm plötzlich einen vielsagenden Ausdruck an. »Viel Zeit vor uns. Wer schon wissen?«
Sie antwortete ihm auf Chinesisch. »Dann müssen wir wohl weitergehen.«
Paolina hatte vor, die Spitze dieses merkwürdigen Berges zu erklimmen, an der sein Hang auf die unermessliche Größe der Mauer traf. Es erschien ihr logisch, dass diejenigen, die Machtinteressen in der Südlichen Hemisphäre hatten, diese von einem derartigen Aussichtspunkt überwachen würden.
Während sie weitergingen, zerbrach sie sich erneut den Kopf über das, was sie sah und was es für das eigentliche Wesen der Welt zu bedeuten hatte. Im Querschnitt betrachtet war a Murado an ihrem Fundament viel breiter als an ihrer Spitze, sonst hätten sie sich wie Fliegen an einem Ziegelsteinablauf hinunterhangeln müssen. Jeder noch so kleine Vorsprung, jedes Geröllfeld, jeder Wasserfall, jeder Wald und jede Stadt, mochten sie sich auch noch so verzweifelt in die Mauer krallen, um ihr Überleben zu sichern – sie alle trugen zum ständig breiter werdenden Mauerfuß bei, bis er sich schließlich mit Land und Meer unter ihm vereinte.
Es war Paolina bei ihren Wanderungen in solcher Höhe auch klar geworden, dass die Mauer auf eine geradezu grundlegende Weise die Struktur der Welt beleidigte. Auch wenn es nur gut und recht war, dass die Welt in eine Südliche und eine Nördliche Hemisphäre geteilt sein sollte – denn schließlich entsprach dies offensichtlich Gottes Willen –, fragte sie sich, warum die afrikanische Küste zu beiden Seiten der Mauer aneinanderzupassen schien? Es schien fast so, als ob die Mauer auf die bereits bestehende Welt hinabgesenkt worden wäre. Auch die Weltmeere passten auf beiden Seiten zueinander.
Vereinten sich die Landmassen unter ihr? Flossen die Weltmeere von einer Seite auf die andere? Die Luft tat das nicht, abgesehen von geringen Mengen an ihrer Spitze. Ihrer Meinung nach gab es keinen Beweis dafür, dass das Wetter in der Nördlichen Hemisphäre mit dem Wetter der Südlichen Hemisphäre in Verbindung stand.
Es schien fast so, als ob ein Zeichner einen Entwurf angefertigt und dann einfach eine dicke Linie mitten durch seinen Entwurf gelegt hatte. Gott konnte sich auf gar keinen Fall getäuscht haben, als er die Welt vor sechstausend Jahren erschaffen hatte. Er musste mit seinem Plan Absichten verfolgen, die sie bis jetzt noch nicht hatte nachvollziehen können.
Dass die Beschaffenheit der Welt nachvollzogen werden konnte, hatte Paolina nie im Geringsten bezweifelt. Dass es an ihr lag, diese Erkenntnis zu gewinnen, bezweifelte sie genauso wenig. Die eigentliche Herausforderung für ihren messerscharfen, pausenlos arbeitenden Verstand war die Frage, wie es geschehen würde.
Nur das Warum, damit würde sie Schwierigkeiten bekommen, denn wer konnte den Willen Gottes schon ermessen? Die Priester, die sie bisher kennengelernt hatte, waren nicht dazu
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