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Die Räder des Lebens

Die Räder des Lebens

Titel: Die Räder des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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Zeichen des weißen Vogels.

Sechs
    Paolina
    Sie hatte gedacht, dass Karindiras Zuhause eine richtige Stadt war. Sie war zehnmal, vielleicht sogar zwanzigmal so groß wie Praia Nova, besaß Festungsmauern, gepflasterte Straßen und Steinhäuser, die direkt nebeneinanderstanden. Zwischen ihnen gingen die kleinen Höhlenbewohnerinnen ihren täglichen Pflichten nach.
    Damals war ihr die Stadt riesig erschienen.
    Ophir aber … Ophir war eine wirkliche Stadt. Nicht nur die Heimat von Messing, Gott sei Dank, denn sonst hätte sie sich leicht verraten, während sie Boas durch die Straßen folgte. Selbst diese wundervollen, mechanischen Wesen verblassten vor dem Gesamtkunstwerk Ophir.
    Die Stadt klammerte sich – anders ließ es sich nicht beschreiben – an einen riesigen Vorsprung, der aus einer der steilen Felswände auf a Muralhas Oberfläche hervorragte. Dadurch ergab sich eine fast waagerechte Fläche, die etwa vierhundert Meter breit und mehrere Kilometer lang war. Auf ihr fanden sich die unterschiedlichsten architektonischen Stile wieder: von mächtigen, säulengestützten Fassaden, die an die Waffenkammer des Westlichen Friedens erinnerten, über Bauwerke aus reinem Marmor, die durch Säulenvorbauten, spitze Dächer und helle, geriffelte Säulen gekennzeichnet waren, die das Sonnenlicht in einem wahren Freudenfeuer reflektierten, bis hin zu Kristalltürmen in Metallskelettbauweise, die wie riesige, mechanische Kerzen glühten. Zwischen die großartigen Bauten schoben sich Häuser, die aus schlichteren Materialien erbaut worden waren – Schuppen aus Treibholz, niedrige Steinhäuser, die überall hingepasst hätten, seltsame, unpassende Gebäude, deren Erbauer schon längst nicht mehr hier waren.
    Auf den Straßen tummelten sich mehr Menschen, als sie jemals gesehen hatte. Die Menschenmengen in Karindiras Stadt waren ein Witz dagegen, und die kleinen Stämme in ihren Dörfern, an denen sie vorbeigekommen war, schrumpften auf die Größe eines Lagerfeuers zusammen, wenn man sie mit dem Einflussbereich dieses Kinds der Schöpfung verglich.
    Natürlich gab es Messing. Es war eindeutig ihre Stadt. Die meisten stolzierten auf eine Weise durch die Stadt, die Boas nicht einmal dann an den Tag legte, wenn er sich unsicher und gereizt fühlte. Andere machten ihnen den Weg frei, wichen zur Seite aus oder drehten einfach um. Es schien, als ob jeder Messing sein eigener kleiner Mond sei, der die Gezeiten im Ozean der Menschen beeinflusste, an denen er mit kräftigen Schritten vorbeikam.
    Es gab aber auch andere Wesen. Menschen, einige hellhäutig und blond, andere mit so dunkler Haut, dass sie an das Innere einer Höhle erinnert wurde, aus der sie elfenbeinfarbene Augen anfunkelten und in deren Schatten Gesichter lauerten. Es gab auch menschenähnliche Wesen: groß gewachsene, haarige Menschen, die mit ihren breiten Nüstern und einer stark abgeschrägten Stirn den Enkidus von Praia Nova ähnelten; deren kleingeratene Cousins, schlanke Affen mit intelligenten, mädchenhaften Augen und schmalen Gesichtern. Sie entdeckte dürre Menschen, die so braun wie Johannisbrotschoten aussahen und Leinenumhänge und Kopftücher trugen, die mit Lapislazuli-Bändern in Form von zusammengerollten Schlangen festgehalten wurden. Wenn sie sich abwendeten, wirkten sie fast wie Schatten. Es gab auch einige Vertreter einer Spezies, die den Bewohnern von Karindiras Stadt glichen, nur dass diese hier eine orangefarbene Haut aufwiesen, die an den Sonnenuntergang erinnerte, und ständig schwarze Tränen weinten. Geflügelte Wesen staksten durch die Straßen und betrachteten alle mit wilden, bedrohlich gelben Augen. Es gab sogar andere mechanische Kreaturen, die nicht zu Messings Spezies gehörten – einen riesigen Kristallautomaten etwa, der fast zehn Meter hoch war, einen fassförmigen Kopf und funkelnde Augen hatte und einen Wagen hinter sich herzog, aus dem heraus miauende Kätzchen Passanten bespuckten.
    Diese bunte Mischung verschiedenster Wesen erinnerte sie erneut an die außerordentliche Bandbreite der Schöpfung. Dazwischen tummelten sich Karren und andere Fahrzeuge, deren Antriebskraft mal aus menschlichen Muskeln, mal aus Pferden oder anderen Kreaturen bestand, und einige keuchten und schnauften dampfend an ihnen vorbei.
    »Ich möchte mich jetzt noch nicht mit der Obrigkeit auseinandersetzen«, murmelte Boas. »Hier gibt es viel, das mein Gedächtnis bei Weitem übertrifft. Ich möchte den unteren Teil der Stadt aufsuchen und mich in

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