Die rätselhaften Worte
geben würde. Sobald sie diesen Job hatte, spielte es keine Rolle mehr, was hier in diesem verträumten Provinznest los war. In London, wo sich das wahre Leben abspielte, krähte kein Hahn danach, ob sich der Knüller von heute morgen als Ente erwies. Das passierte ständig. Im Gedächtnis behielt man nicht die Entschuldigungen und Richtigstellungen, sondern die Schlagzeilen.
Warum schlich sie also wie eine Katze um den heißen Brei herum? In diesem Leben war man entweder Spieler oder eben Zuschauer. Und ich bin ein Spieler! sagte sie sich, als sie in ihr Büro ging, um die nötigen Anrufe zu erledigen. Was brachte es, von einem Wolkenkratzer zu springen, wenn man nicht das gewünschte Publikum hatte?
*
Nach der Ansicht der Zuschauer war es, gemessen an Jax Ripleys üblichem Niveau, eine lahme Sendung. Einleitung und Moderation wirkten einsilbig, man vermißte ihre gewohnte Spritzigkeit. Normalerweise sprang sie einem förmlich aus dem Bildschirm entgegen. Nicht so heute abend. Heute abend war sie offensichtlich in Gedanken woanders.
Der letzte aufgezeichnete Beitrag war ein Interview mit Charley Penn über die neue Harry-Hacker-Serie, die in der folgenden Woche im Fernsehen anlaufen sollte. Das Interview war gelungen, Jax brillierte als Verführerin, während sich Penn düster gab. Zum Abschluß stellte sie eine Frage zu dem Doppelgänger-Motiv, das er häufig in seinen Büchern verwendete, wenn er Hacker Warnungen oder sonstige Hilfe durch eine schattenhafte Gestalt zukommen ließ, die ihm zu ähneln schien.
»Charley, verraten Sie mir eins: Glauben Sie wirklich, daß ein Mensch an zwei Orten gleichzeitig sein kann, oder werden Sie uns eines Tages mit der Enthüllung überraschen, daß Harry einen Zwillingsbruder hat?«
Penn lächelte sie an, dann blickte er direkt in die Kamera.
»Ob man an zwei Orten zur selben Zeit sein kann, weiß ich nicht, aber ich habe kein Problem mit einer Romanfigur, die in zwei Zeiten am selben Ort ist.«
Das brachte sie zum Lachen. Sie gehörte zu den wenigen Menschen, die mit weitgeöffnetem Mund auch in Nahaufnahme eher anziehend als abstoßend wirkten.
»Das ist mir zu hoch, Charley. Aber das neue Buch gefällt mir. Und obwohl ich das nicht sagen dürfte: Lesen ist viel besser als fernsehen.«
Ende des Films. Schnitt zu Jax live im Studio, jetzt nicht mehr entspannt mit untergeschlagenen Beinen auf dem weißen Kunstledersofa, wo sie mit ihren Interviewpartnern plauderte, sondern in kerzengerader Haltung auf einem harten Stuhl, die Knie aneinandergepreßt, die Finger eng verschränkt, mit der ernsten, unbewegten Miene einer jungen Lehrerin, die im Begriff ist, einen strengen Tadel auszusprechen.
»Lassen wir den Doppelgänger mal beiseite«, sagte sie, »niemand wird bestreiten, daß die Wahrheit oft merkwürdiger ist als die Dichtung – um wieviel merkwürdiger, ist mir aber erst unlängst aufgegangen.
Für Dichtung steht in diesem Fall ein Großteil der Beiträge zum Short-Story-Wettbewerb der
Gazette.
Einsendeschluß ist heute abend – diejenigen unter Ihnen, die noch an ihrem Werk feilen, sollten also am besten gleich ihre Inline-Skates unterschnallen. Ich hoffe, daß ich Ihnen in der Sendung nächste Woche die Auswahlliste vorstellen und vielleicht ein paar der hoffnungsvollen Autoren interviewen kann.
Aber unter den Teilnehmern ist einer, der sich wahrscheinlich nicht um einen Interviewtermin reißen wird, einer, den die Polizei den Wordman nennt …«
Die meisten Zuhörer in der Grafschaft fuhren mit dem fort, was sie gerade taten, und wurden erst aufmerksam, als ihnen klar wurde, wovon Jax Ripley eigentlich redete. Manche aber hatten schon bei der ersten Erwähnung des Short-Story-Wettbewerbs aufgehorcht oder ihr Gerät lauter gestellt. Einige waren von ihrem Sessel aufgestanden oder begannen derb zu fluchen, während sie weitersprach. Einer aber lehnte sich zurück, lachte laut und dankte dem Himmel.
Als sie fertig war und die Blaskapelle die Schlußmelodie gespielt hatte, saß Jax eine Weile still da. Dann kam John Wingate hereingestürmt.
»Meine Güte, Jax! Was, zum Teufel, hat das zu bedeuten? Ist es wahr? Das kann doch nicht wahr sein! Woher hast du das? Welche Beweise hast du? Du hättest das erst mit mir absprechen sollen, das weißt du genau. Scheiße! Was wird jetzt passieren?«
»Abwarten und Tee trinken«, meinte sie lächelnd. Jetzt, nachdem die Würfel gefallen waren, hatte sie wieder die Ruhe weg.
Sie brauchten nicht lange zu
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