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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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begrüßt und er sich mit amüsierten, besitzergreifenden Blicken umsieht. Sie erkennt auch, wieso es ihm hier gefällt: der ganze Raum ist mit Bildern dekoriert, für die man vor zwanzig Jahren verhaftet worden wäre, weil sie ausschließlich nackte Frauen zeigen. Nackte Frauen, und nackte Meerjungfrauen, mit enormen, statuesken Brüsten: kein einziger Hängebusen darunter. Also schön, nackte Menschen, weil es den nackten Frauen nicht an männlicher Gesellschaft mangelt. Auf dem Weg zu ihrem Tisch bekommt Roz einen Schwanz mitten ins Auge, und wendet den Blick ab.
    »Was ist das hier?« flüstert sie Mitch zu, erfüllt von Neugier und amüsiertem Entsetzen, und von ungetrübter Freude darüber, von Mitch zum Essen ausgeführt zu werden. »Seh ich tatsächlich, was ich zu sehen glaube? Ich mein, ist das hier ein Pornoschuppen oder was?«
    Mitch lacht in sich hinein, weil es ihm Spaß macht, Roz ein wenig zu schockieren, es macht ihm Spaß, ihr zu zeigen, daß er über ihre Vorurteile erhaben ist. (Nicht daß sie prüde wäre, aber es gibt privat, und es gibt öffentlich, und das hier ist öffentlich. Hier werden private Teile der Anatomie öffentlich gemacht.) Er erklärt, daß es sich um ein Fischrestaurant handelt, ein mediterranes Fischrestaurant, eins der besten der Stadt, wenn man ihn fragt, und daß der Besitzer gleichzeitig Maler ist, und ein Teil der Bilder stammt von ihm, und ein paar andere von seinen Freunden, die seine Interessen anscheinend teilen. Venus spielt eine herausragende Rolle, weil sie schließlich eine dem Meer entstiegene Göttin war. Das Fischmotiv erklärt die Meerjungfrauen. Roz kommt zu dem Schluß, daß dies nicht einfach nur nackte Personen sind, es sind mythologische nackte Personen. Damit kann sie umgehen, das hatte sie an der Uni. Proteus, der in sein Horn bläst. Oder es sich blasen läßt.
    »Oh«, sagt Roz mit ihrer gespielt naiven Stimme. »Dann ist das hier also Kunst, mit ganz großem K! Macht das die Sache legal?« Und Mitch lacht noch einmal, ein bißchen verlegen, und legt ihr nahe, ihre Stimme ein wenig zu senken, weil sie doch sicher nicht die Gefühle anderer verletzen will.
    Wenn irgendjemand anderes ihr sagte, daß sie die Stimme senken soll, wüßte Roz, was sie zu tun hätte: noch lauter werden. Aber Mitch konnte ihr schon immer das Gefühl geben, gerade erst von Bord des Schiffes gekommen zu sein, ein Kopftuch auf dem Kopf, daran gewöhnt, sich die Nase mit dem Ärmel abzuwischen und von Glück sagen zu können, einen Ärmel zu haben. Oder eine Nase, wo sie schon mal dabei waren. Von welchem Schiff? Es gab viele Schiffe in Roz’ vorväterlicher Vergangenheit, soweit sie weiß. Alle, von denen sie abstammt, wurden irgendwo anders vor die Tür gesetzt, weil sie entweder zu arm oder politisch zu ungehobelt waren, oder weil sie das falsche Profil oder den falschen Akzent oder die falsche Haarfarbe hatten.
    Das Schiff, mit dem ihr Vater kam, ist noch nicht so lange her, wenn auch lange genug, um hier gewesen zu sein, bevor die kanadische Regierung anfing, keine Juden mehr reinzulassen, in den dreißiger Jahren und während des Krieges. Dabei war ihr Vater nicht mal ein ganzer Jude. Wieso vererbt sich Judentum über die mütterliche Seite? hatte Tony einmal gefragt. Weil so viele jüdische Frauen von Kosaken und weiß der Himmel was vergewaltigt wurden , daß man nie sicher sein konnte , wer der Vater war Aber Roz’ Vater war jüdisch genug für Hitler, der Mischungen mehr als alles andere haßte.
    Auf der Seite ihrer Mutter lag das Schiff sehr viel weiter zurück. Hungersnot verursacht durch Landlosigkeit verursacht durch Krieg hatte sie vertrieben, vor hundertfünfzig Jahren, Iren und Schotten gleichermaßen. Eine dieser Familien machte sich mit fünf Kindern auf den Weg und kam mit keinem einzigen an, und dann starb der Vater in Montreal an Cholera, und die Mutter heiratete noch einmal, so schnell sie konnte – einen Iren, dem die Frau weggestorben war und der folglich eine neue brauchte. Männer brauchten damals Frauen, für derartige Unternehmungen. Und sie zogen los, in den nur halb gerodeten Busch, um viel zu hohe Steuern zu zahlen und weitere Kinder zu bekommen und Kartoffeln anzubauen und Bäume mit Gerätschaften zu fällen, die sie nie zuvor benutzt hatten, denn wie viele Bäume gab es denn schon in Irland? Sie hackten sich eine Menge Beine ab, diese Leute. Tony, die sich mehr als Roz für Details dieser Art interessiert, hat Roz einmal ein altes Bild

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