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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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danach zu fragen. Sie wußte, daß es dann nur heißen würde, sie sei sündhaft und ungläubig. Aber sie hätte es trotzdem gerne gewußt.)
    Wenn Roz Fragen stellte, sahen die Nonnen sie manchmal so komisch an. Oder sie sahen sich gegenseitig komisch an und schürzten die Lippen und schüttelten den Kopf. Schwester Conception sagte: »Was kann man schon erwarten?« Schwester Cecilia nahm sich besonders viel Zeit, mit Roz zu beten, wenn sie böse gewesen war und nach der Schule Buße tun mußte. »Im Himmel herrscht mehr Freude über das eine verlorene Schaf«, sagte sie zu Schwester Conception.
    Roz ergänzte den Himmel um Schafe. Sie wären natürlich draußen vor dem Fenster. Aber sie war froh zu wissen, daß es sie gab. Es bedeutete, daß auch Hunde und Katzen eine Chance hatten. Nicht etwa, daß Roz einen Hund oder eine Katze hätte haben dürfen; sie hätten ihrer Mutter, die auch so genug zu tun hatte, zuviel Arbeit gemacht.

43
    Roz kommt später als gewöhnlich aus der Schule nach Hause. Sie geht allein durch das schwindende Licht, durch den Schnee, nicht sehr viel davon, er kommt durch die Luft herabgetrudelt wie winzige weiße Seifenflocken. Sie hofft, daß der Schnee bis Weihnachten liegenbleibt.
    Sie ist so spät dran, weil sie für das Krippenspiel geprobt hat, in dem sie der Hauptengel ist. Sie wäre lieber die Jungfrau Maria gewesen, ist aber statt dessen der Hauptengel, weil sie so groß ist und weil sie sich den ganzen Text merken kann. Sie hat ein weißes Kostüm und einen glänzenden goldenen Heiligenschein, der aus einem Kleiderbügel gemacht ist, und Flügel aus steifer, weißer Pappe, die von Riemen gehalten werden und bei denen die Spitzen der Federn golden angemalt sind.
    Heute war das erste Mal ,  daß sie mit den Kostümen geprobt haben. Roz muß beim Gehen ganz vorsichtig sein, weil die Flügel sonst runterrutschen, und sie muß den Kopf ganz hoch und gerade halten, wegen des Heiligenscheins. Sie muß zu den Hirten gehen, die nachts über ihre Herde wachen, während ein großer Rauschgoldstern an einer Schnur über ihren Köpfen baumelt, und die rechte Hand heben, während sie ängstliche Gesichter machen, und sagen: Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkündige euch große Freude, die allen Menschen widerfahren wird. Dann muß sie ihnen sagen, daß sie gehen und das Kind finden sollen, das in Windeln gewickelt ist und in einer Krippe liegt, und dann muß sie sagen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen, und dann muß sie mit dem Finger zeigen, mit ausgestrecktem Arm, und die Hirten über die Bühne zu der Stelle geleiten, wo die Krippe steht, während der Schulchor singt.
    Die Mädchen, die die Hirten spielen, tun Roz leid, weil sie zerlumpte Kleider und Bärte tragen müssen, die mit Drahtbügeln über ihre Ohren gehakt werden wie Brillen. Es sind dieselben Bärte, die jedes Jahr benutzt werden, und sie sind dreckig. Noch mehr tun ihr die kleinen Kinder leid, die die Schafe spielen. Die Schafskostüme müssen früher einmal weiß gewesen sein, aber jetzt sind sie grau, und bestimmt ist es in ihnen sehr heiß.
    Vor der Krippe hängt ein blauer Vorhang. Die Hirten müssen davor stehenbleiben, bis der Chor fertig ist; in der Zwischenzeit ist Roz nach hinten gegangen und auf einen Hocker geklettert und steht jetzt mit ausgebreiteten Armen da. Rechts von ihr steht Anne-Marie Roy, links von ihr Eileen Shea; beide blasen auf ihren Trompeten, aber natürlich nicht richtig. Sie müssen die ganze Zeit so stehenbleiben, während zwei kleine Kinder mit Cherubsflügeln den Vorhang aufziehen, hinter dem die blöde Julia Warden zum Vorschein kommt, mit ihren blonden Haaren und ihrem Rosenknospenmund und ihrem albernen, affektierten Lächeln, die als Jungfrau Maria verkleidet ist und einen größeren Heiligenschein hat als Roz, und ein Jesuskind, das in Wirklichkeit eine Porzellanpuppe ist, und der heilige Joseph, der hinter Maria steht und sich auf seinen Stab stützt, und ein paar Heuballen. Die Hirten knien sich auf die eine Seite, und dann kommen die Heiligen Drei Könige in glitzernden Gewändern und Turbanen, und einer von ihnen hat ein schwarzes Gesicht, weil einer der Heiligen Drei Könige schwarz war, und sie knien sich auf die andere Seite, und der Chor singt Vom Himmel hoch da komm ich her, und dann fällt der Vorhang, und Roz kann die Arme herunternehmen, was eine Erleichterung ist, weil es wirklich weh tut, sie so lange so ausgestreckt in der

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