Die Räuberbraut
angelangt, holt sie den purpurnen Zweig aus der Tasche, als Beweis.
»Ich muß ein bißchen verrückt gewesen sein«, sagt sie. »Daß ich gedacht hab, ich könnte sie tatsächlich umbringen.«
»Ich find das nicht so besonders verrückt«, sagt Roz. »Jedenfalls nicht, sie umbringen zu wollen. Sie bringt einen soweit. Wenn du mich fragst, kannst du von Glück sagen, daß du mit heiler Haut davongekommen bist.«
Ja, denkt Tony und überprüft sich noch einmal. Keine offensichtlichen Teile abhanden gekommen.
»Ist die Pistole noch in deiner Tasche?« fragt Charis nervös. Sie würde nicht wollen, daß ein derart gefährlicher Gegenstand mit ihrer Aura kollidiert.
»Nein«, sagt Tony. »Ich bin nach Hause gegangen und hab sie an ihren Platz zurückgelegt.«
»Gut gemacht«, sagt Roz. »Und jetzt du, Charis. Ich komm als letzte.«
Charis zögert. »Ich weiß nicht, ob ich wirklich alles erzählen soll«, sagt sie.
»Wieso nicht?« sagt Roz. »Tony hat. Ich werde. Komm schon, wir haben keine Geheimnisse voreinander!«
»Aber«, sagt Charis, »es kommt etwas vor, was dir nicht gefallen wird.«
»Herrgott noch mal, wahrscheinlich wird mir überhaupt nichts gefallen«, sagt Roz jovial. Ihre Stimme ist eine Spur zu laut. Charis fühlt sich an die frühere Roz erinnert, die Roz, die sich Lippenstiftgesichter auf den Bauch malte und im Gemeinschaftszimmer der McClung Hall das Becken kreisen ließ. Vielleicht ist Roz überdreht.
»Es geht um Larry«, sagt Charis unglücklich.
Roz wird auf der Stelle ernst. »Ist schon in Ordnung, Süße«, sagt sie. »Ich bin ein großes Mädchen.«
»Das ist niemand«, sagt Charis. »Nicht wirklich.« Dann holt sie tief Luft.
Nachdem Zenia an jenem Tag im Toxique aufgetaucht war, überlegte Charis eine ganze Woche lang, was sie tun sollte. Das heißt, sie wußte, was sie tun sollte, aber sie wußte nicht, wie sie es anfangen sollte. Außerdem mußte sie sich geistig wappnen, weil eine Begegnung mit Zenia keine Kleinigkeit sein würde.
Sie sah voraus, daß sie und Zenia sich in einem Zweikampf begegnen würden. Zenia würde Funken blutroter Energie aussenden; ihre schwarzen Haare würden knistern wie brennendes Fett, ihre Augen würden erdbeerfarben sein und von innen leuchten wie die einer Katze im Licht eines Autoscheinwerfers. Charis dagegen würde kühl sein, aufrecht, umgeben von einem sanften Glanz. Um sich herum würde sie einen weißen Kreidekreis gezogen haben, der die Schwingungen des Bösen in Schach halten würde. Sie würde die Arme heben und den Himmel anrufen, und eine Stimme wie das Klingeln von Glöckchen würde aus ihrem Mund dringen: Was hast du mit Billy gemacht?
Und Zenia würde sich winden und aufbäumen und Widerstand leisten, aber durch die Überlegenheit von Charis’ positivem Kraftfeld schließlich doch gezwungen sein, alles zu erzählen.
Charis war noch nicht stark genug für diese Kraftprobe. Ganz auf sich allein gestellt, würde sie es vielleicht nie sein. Sie würde sich Waffen von ihren Freundinnen borgen müssen. Nein, nicht Waffen; nur Schutzschilde, weil sie sich nicht als Angreiferin sah. Sie wollte Zenia nicht wehtun, oder? Sie wollte nur, daß Zenia zurückgab, was sie gestohlen hatte: Charis’ Leben, den Teil, in dem Billy enthalten war. Sie wollte nur, was rechtmäßig ihr gehörte. Das war alles.
Sie sah die Pappkartons durch, die in dem kleinen Zimmer oben standen, einst ein Abstellraum, dann Zenias Zimmer, dann Augusts Kinderzimmer, jetzt ein Gästezimmer, falls welche kamen. Aber eigentlich war es immer noch Augusts Zimmer. Dort schlief sie, wenn sie übers Wochenende nach Hause kam. In den Kartons waren Sachen, die Charis schon lange weggeben wollte. Sie fand ein Weihnachtsgeschenk von Roz – ein Paar gräßlicher Lederhandschuhe, mit echtem Pelz besetzt, Haut von toten Tieren, sie könnte sie niemals tragen. Von Tony fand sie ein Buch, das Tony selbst geschrieben hatte: Vier verlorene Fälle. Es handelte ausschließlich von Kriegen und vom Töten, schädliche Themen, Charis hatte es nie lesen können.
Sie trug das Buch und die Handschuhe nach unten und legte sie auf den kleinen Tisch unter dem großen Fenster im Wohnzimmer – wo die Sonne sie bescheinen und ihre schattigen Seiten zerstreuen konnte – und legte ihre Amethyst-Druse daneben, und umringte das Ganze mit getrockneten Ringelblumenblüten. Dieses Arrangement ergänzte sie nach einiger Überlegung durch die Bibel ihrer Großmutter, immer ein kraftspendender
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