Die Ranch
Stuart.
Nachdem sie das Telefongespräch beendet hatten, saß Mary Stuart lange am Fenster und beobachtete Mütter und Kinder, die zum Spielplatz eilten. Dort rannten die Kinder herum, während die Mütter auf Bänken saßen und schwatzten. So gut erinnerte sie sich an jene Zeiten, als wär's erst gestern gewesen. Jeden Nachmittag hatte sie mit den Kindern im Park verbracht. Einige ihrer Freundinnen waren berufstätig, aber sie fand es wichtiger, zu Hause zu bleiben, was Bills Karriere zum Glück ermöglichte. Jetzt musste sie sich nicht mehr um die Kinder kümmern. Ihre Tochter reiste mit Freunden durch Europa, ihr Sohn befand sich an einem fernen Ort in der Ewigkeit, wo sie ihn hoffentlich irgendwann wieder sehen würde. Dieser Gedanke war ihr einziger Trost.
Gebt auf eure Kinder Acht,
wollte sie den Müttern im Park zuflüstern,
haltet sie so lange wie möglich fest
…
Die Freuden der Mutterschaft währten nicht lange. Unvermittelt waren sie vorbei. So wie ihre Ehe. Seit Monaten hatte sie das Ende kommen sehen – und die Augen davor verschlossen. Nun gab es keinen Zweifel mehr, nachdem Bill einfach gegangen war – obwohl sie ihm gesagt hatte, sie würde ihn lieben. Und sie verlor ihn nicht einmal an eine andere Frau. Es war jener Schicksalsschlag gewesen, der sie beide so grausam getroffen hatte und von dem sie sich nicht erholen konnten. Jetzt musste Mary Stuart ein neues Leben beginnen, und sie würde zwei Monate Zeit haben, um die Freiheit zu erproben und festzustellen, wie sie ihr gefiel.
Am Nachmittag ging sie spazieren, dachte an Bill, den seine Mitarbeiter nach London begleiteten, an Alyssa in Gesellschaft ihrer Freunde. Nur sie war allein, musste die Scherben ihres Lebens einsammeln und sich mit Todds Selbstmord abfinden. Mochte sie die Verantwortung dafür tragen oder nicht – sie durfte seinen Tod nicht wie ein Leichentuch mit sich herumschleppen, bis sie daran zu Grunde gehen würde.
Als sie ins Apartment zurückkehrte, wusste sie, was sie tun musste. Im Grunde wusste sie es schon lange. Aber bisher hatte sie nicht den Mut dazu aufgebracht. Obwohl es ihr widerstrebte, diese Pflicht allein zu erfüllen – es war an der Zeit. Beinahe gewann sie den Eindruck, Todd würde auf sie warten und ihren Entschluss gutheißen. Sie öffnete die Tür, die Vorhänge und Jalousien seines Zimmers und ließ das Sonnenlicht herein. Dann setzte sie sich an seinen Schreibtisch und zog die Schubladen auf. Zunächst fühlte sie sich wie ein unbefugter Eindringling, während sie die Papiere ihres Sohnes durchsah. Briefe, alte Zeugnisse, Erinnerungsstücke aus der Kindheit, die Urkunde seiner Aufnahme in den Gourmet-Club von Princeton. Den Tränen nahe holte sie Kartons aus der Küche, und als sie die Papiere darin verstaute, begann sie zu schluchzen.
Diesmal war die Tränenflut eine Erleichterung. Den ganzen Abend verbrachte sie in Todds Zimmer, und das Telefon läutete kein einziges Mal. Um zwei Uhr nach Londoner Zeit hätte Bill landen und um halb vier im Claridge eintreffen müssen. Was sie tat, ahnte er nicht, doch er hatte ihr vor langer Zeit versichert, sie könnte tun, was sie wollte.
Um Todds Kleider und Bücher und sein übriges Eigentum in Kartons zu verstauen, brauchte sie mehrere Stunden. Nur ein paar besondere Sachen wollte sie behalten – die alte Pfadfinderuniform, seine Lieblingslederjacke, einen Pullover, den sie gestrickt hatte. Seine restliche Garderobe würde sie verschenken, die Papiere und Bücher im Keller verwahren. Die Trophäen und Fotos aus seinem Zimmer verteilte sie in der Wohnung. Und so schien er wieder etwas mit ihr zu teilen, so als hätte er zur Erinnerung Geschenke hinterlassen. Sie stellte das schönste Foto in ihr eigenes Zimmer, ein anderes in Alyssas Schlafzimmer.
Gegen zwei Uhr morgens beendete sie ihre Arbeit. Sie stand allein in ihrer weißen Küche und glaubte beinahe, Todd an ihrer Seite zu spüren. In ihrer Fantasie sah sie sein Gesicht immer noch ganz deutlich, seine dunklen Augen, und sie hörte auch seine Stimme. Niemals würde sie das alles vergessen. Seine Sachen spielten keine Rolle mehr. Was wirklich zählte, würde sie für immer begleiten.
Sie zog die dunkelgrüne Tagesdecke von seinem Bett und legte sie beiseite, um sie in die Reinigung zu bringen. Dann beschloss sie, neue Vorhänge zu kaufen. Erst jetzt bemerkte sie, wie verblichen und fadenscheinig die alten waren. Trotz der vielen Kartons wirkte das Zimmer so, als würde er in eine andere Wohnung
Weitere Kostenlose Bücher