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Die Rastlosen (German Edition)

Die Rastlosen (German Edition)

Titel: Die Rastlosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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Figuren hatten sich verliebt, aber was wusste er eigentlich über dieses Phänomen? Wusste er, wovon er sprach? Wenn er jetzt so darüber nachdachte, lag die Antwort auf der Hand.
    Wie auch immer, das System, das Marianne und er aufgebaut hatten und das es ihnen ermöglicht hatte, die letzten vierzig Jahre tapfer und ohne größere Schäden durchzustehen, dieses System würde gesprengt werden. Er stützte sich auf seine Ellbogen und betrachtete die Spitzen seiner blutbefleckten Schuhe.
    So dreckig und blutbesudelt war es wohl besser, wenn er niemandem begegnete. Gewiss, er konnte eine zur Unzeit eingetretene nasale Hämorrhagie geltend machen, aber er wirkte eher wie ein verträumter Schlächter in der Mittagspause denn wie ein harmloser Bürger mit Nasenbluten, mochte es auch noch so stark sein.
    Es war also angebracht, mit der gebotenen Vorsicht hinabzusteigen und die Augen offen zu halten, damit es auf dem Rückweg nicht erneut zu einem Zwischenfall kam. Er mochte das Gefühl der Verwundbarkeit überhaupt nicht, das sich einstellte, wenn man die Kontrolle über die Lage verlor und ohne Deckung agieren musste, und das hatte er in den letzten Tagen oft genug erlebt. Er hatte nichts gegen Überraschungen, den Charme des Unbekannten, bereichernde Erfahrungen, Zufälligkeiten und Erscheinungen, aber musste man nicht nach jeder Herausforderung wieder zu Kräften kommen, bevor man in die nächste schlitterte oder gar zwischen die Fronten geriet?
    Er rieb sich mit schwarzem, feuchtem Laub ab, eine notdürftige Reinigung, damit er sich im ungünstigen Fall einer Begegnung herausreden konnte oder um zu verhindern, dass ihn ein Geistesgestörter auf der Stelle niederschoss. Es war noch ziemlich früh. Vermutlich würde er in dieser Gegend noch eher einem Reh über den Weg laufen als irgendeinem blöden Kerl, aber vorsichtshalber bewegte er sich gebückt und leise, rannte fast und machte sich dabei das abschüssige Gelände zunutze.
    Er stürzte dreimal. Beim dritten Mal machte sein Steißbein ein kleines Geräusch, und ein eisiger Blitz fuhr durch jede Faser seines Körpers. Aber er stand wieder auf – zu seiner Überraschung, denn er war dieser Tage nicht vom Glück verwöhnt, und dieser dritte Sturz hätte ihn genauso gut komplett lähmen und verhindern können, dass er zu seinem Auto gelangte, er wäre mit tränenüberströmtem Gesicht im Wald verschimmelt, da niemand sein Wutgeheul vernommen hätte. Aber er stand wieder auf und fühlte nur einen unbestimmten Schmerz, der im Übrigen schnell nachließ.
    Als er sich hinter das Steuer des Fiat fallen ließ, stieß er einen Schrei aus, weil er dachte, er hätte sich auf eine unglaublich spitze Nadel gesetzt, und machte einen solchen Satz, dass er mit seinem Schädel gegen das Wagendach knallte.
    Er fuhr mit der Hand über die Stelle, aber da war nichts. Auch vom Schmerz war nichts mehr zu spüren – er schien mit einem Mal so unwirklich, dass Zweifel an seiner Echtheit berechtigt schienen. Fest ans Lenkrad geklammert und mit zusammengebissenen Zähnen ließ er sich ganz behutsam wieder auf den Sitz sinken – in Erwartung der Schläge, die das Schicksal noch für ihn bereithalten mochte.
    Als er endlich wieder auf seinem Platz saß und sich halbwegs beruhigt hatte, machte er ein paar Drehbewegungen mit dem Becken, richtete den Oberkörper auf, beugte sich nach vorn, hustete, aber nichts passierte. Es war schwer zu sagen, woran man sich halten sollte und ob man nicht von morgens bis abends träumte – im Verhältnis zwischen dem eigenen Körper und einem selbst herrschte zumeist großes Unverständnis, aber niemand wollte darüber sprechen, niemand wollte Gefahr laufen, sich diese Blöße zu geben.
    »Warum dachte ich immer, wir seien die Wellen des Ozeans?«, fragte sich Frederick Seidel – der große Frederick Seidel – in einem seiner jüngsten Gedichte. Er sah auf die Uhr. Er hatte seinen Studenten aufgetragen, davon ausgehend ein paar Ideen zu entwickeln, und er hatte eine knappe Stunde Zeit, bevor er ihnen gegenübertreten musste – frisch geduscht, umgezogen, mit klarem Kopf und einer gesunden Gesichtsfarbe. Er beschleunigte – und weil er allein auf weiter Flur war, ließ er sich zu ein paar prolligen Manövern hinreißen, was der Cinquecento mit seinen 150   000 Kilometern nicht sonderlich goutierte.
    Marianne war noch da, das hatte er sich schon gedacht. Er fuhr am Haus vorbei, kehrte nach einer Minute um und rollte mit abgestelltem Motor heran. Er nahm die

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