Die Rastlosen (German Edition)
erklärte er ihr ein bisschen, wie die Dinge lagen, was Marianne und er so alles erlebt hatten, er öffnete sich ein wenig. Sie hörte ihm zu und streichelte dabei seinen Kopf. Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu. »Darum sind meine Schwester und ich sehr eng miteinander verbunden.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Das verstehe ich sehr gut.«
»Und ja, manchmal kann das lästig werden, das gebe ich gerne zu. Aber ich werde nie vergessen, dass sie mir das Leben gerettet hat. Habe ich Ihnen die Geschichte noch nicht erzählt? Stellen Sie sich vor, eines Tages wäre ich irgendwo in diesem Wald fast in eine Felsspalte gefallen, und ich könnte Ihnen das nicht erzählen, wenn Marianne mich nicht am Handgelenk erwischt und wieder hochgezogen hätte. Da können Sie sich ausmalen, wie sehr wir miteinander verbunden sind.«
Mit der Zeit war er beim Blasen von Rauchringen richtig gut geworden. Er konnte sie zur Decke steigen oder auf der Stelle schweben lassen wie dünne, zitternde Donuts, durch die kreisende Wellen liefen. Einen kurzen Moment gab er sich diesem Zeitvertreib hin und ließ seine Gedanken schweifen. Er dachte an das Gespräch, das er mit seiner Schwester führen würde. Er fand es unerträglich, über diese Dinge zu reden – an die er sich, ehrlich gesagt, kaum mehr erinnerte –, sie ans Licht zu zerren, sie auszuwalzen, aber ihm war klar, dass er sich dem nicht entziehen konnte.
Er schaute Myriam an und stellte fest, dass er schon immer einen unkontrollierbaren Hang zu Rothaarigen mit milchweißer Haut empfunden hatte. Er drückte seine Zigarette aus und senkte den Blick. Seine Schwester würde sich auch künftig die Hand vor den Mund halten, ja vielleicht sogar hineinbeißen müssen, wenn er sie weiter quälte, ihr weiter gute Gründe für Verbitterung und Ressentiments lieferte – wie das in letzter Zeit zuhauf vorkam. So war beispielsweise kaum anzunehmen, dass sie mit Gleichmut und Wohlgefallen auf die Nachricht seiner Beziehung zu Myriam reagierte – die immer wichtiger für ihn wurde.
Musste er damit rechnen, dass sie sich Richard Olso annäherte? Dem Mann, den er am meisten verabscheute, dem Mann, der mit erstaunlicher Regelmäßigkeit in schlechte Bücher und schlechte Autoren vernarrt war – und an der Verbreitung einer Literatur mitwirkte, die weder Aussage noch Niveau, weder Profil noch Originalität besaß?
*
Die erste Stunde, die er Annie Eggbaum gab – zu einem stolzen Preis, denn sie hatte darauf bestanden, dass er zu ihr nach Hause kam –, hielt er eines Spätnachmittags an ihrem Swimmingpool, während die Sonne still über den fernen Alpengipfeln stand und es noch sehr warm war. Mit einem Schlag schien es Sommer geworden zu sein.
Annie Eggbaum trug Badesachen. Einen einfachen Bikini. Sie hatte Fruchtcocktails zubereitet. In großen Gläsern. Mit dicken Fantasiestrohhalmen drin. Sie hatte dreihundert Euro auf den Tisch gelegt.
»Sind dreihundert Euro okay? Für eine Stunde? In bar?«, hatte sie mit unschuldiger Miene gefragt. Er hatte genickt und das Geld genommen, es seelenruhig in seine Brieftasche gesteckt. Jeder dahergelaufene Bodyguard kostete das Zehnfache, jeder dahergelaufene Fußballer konnte die Hälfte der Stadt kaufen, jeder dahergelaufene Banker konnte ganze Familien auf die Straße setzen. Dreihundert Euro bedeuteten nicht viel im Vergleich zu gewissen Summen, die in jeder Stadt, jedem Land und jedem Kontinent durch gewisse Hände flossen. Dreihundert Euro waren die Krokodilsträne im Logo irgendeines Lacoste-Hemds, ein winziges Stäubchen am Ende der Welt.
»Warum haben Sie sich eigentlich für mein Seminar angemeldet, Annie?« Sie antwortete nicht. Die Erklärungen, die sie dazu hätte geben können, interessierten ihn auch nicht besonders. Er hatte sein Glas in der einen, seine Zigarette in der anderen Hand. Er sah auf das Wasser im Pool und dachte, dass das Wetter ideal für ein Bad war.
»Nur zu. Rein ins Vergnügen«, sagte sie. »Ich treibe eine Badehose für Sie auf.«
Der Trick war so plump, dass er höhnisch auflachte. Aber hatte er wirklich etwas anderes erwartet? Dieses Mädchen war völlig verrückt. So verrückt, dass man sie nicht ohne guten Grund gegen sich aufbringen wollte. Dennoch schlug er die Einladung zu einem Sprung ins Wasser aus und schlug vor, dass sie gemeinsam ihre letzte Arbeit durchsahen. Die ziemlich schlecht war.
»Sehen Sie das Fenster da drüben?« Sie zeigte auf eine Fenstertür im zweiten Stock, die auf einen
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