Die Rastlosen (German Edition)
Gerücht, dass seine Mutter während ihrer Schwangerschaften nicht eine Minute zu rauchen aufgehört hatte, so dass Marianne und ihm dieses Laster tief in den Genen steckte. Er erinnerte sich wieder an seinen Vater, der oftmals beim Essen wortlos vom Tisch aufgestanden war, weil der Rauch ihn störte – während sie auf eine Reaktion von ihm wartete, während eigentlich alle auf eine Reaktion von ihm warteten, aber es kam nichts, man hörte nur die Tür ins Schloss fallen, dann begann wieder einmal Geschirr zu fliegen.
Am frühen Morgen, beim ersten Hahnenschrei und nach einer Dreiviertelstunde ununterbrochener Mühen, machte er sich, nachdem er eine der größten Kraftanstrengungen seines Lebens vollbracht hatte und am Ende des Tals die Sonne heraufdämmerte, an das letzte Stück des Weges, der zur Spalte führte – deren Öffnung hinter einem feuchten und rutschigen Felsvorsprung klaffte. Gut. Einen Moment lang hielt er atemlos, bleich und zitternd inne. Da hörte er beim ersten Sonnenstrahl eine Grille zirpen.
Aber mit diesem Vorgehen hatte er sich weiß Gott jede Menge Ärger erspart. Was er jetzt gerade durchmachte, war nichts im Vergleich mit den Ärgernissen, die er seitens der Polizei zu befürchten hatte, die da extrem pedantisch sein konnte und sich darüber hinaus nur allzu gern in Justizirrtümer verrannte. Er tupfte sich die Stirn mit einem durchnässten Taschentuch ab. Ein schöner Morgen stand bevor. Er war froh, dass er diese Angelegenheit so schnell – und so problemlos – erledigt hatte, denn ihm war durchaus bewusst, dass andere Dinge sehr bald seine gesamte Aufmerksamkeit beanspruchen würden. Was wollte dieser Polizist eigentlich, der da plötzlich aus dem Nichts gekommen war? Zunächst einmal sollte jemand mit einem schwachen Herzen nicht so einen Beruf ausüben. Außer, er war völlig verrückt.
Er schob den Leichnam des Polizisten bis an den äußersten Rand der Spalte und stieß ihn schließlich mit beiden Beinen in die Tiefe. Dann robbte er bis zum Rand des Schlunds vor, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung und nichts mehr zu sehen war, dass die Finsternis alles ausgelöscht hatte. Alles lief tadellos. Die Leiche des Polizeibeamten war nicht auf dasselbe Hindernis gestoßen wie die von Barbara, sie war planmäßig und ohne Zwischenhalt im Abgrund gelandet.
Immerhin war das nun erledigt. Er seufzte und rollte sich auf den Rücken. Dass es diese Spalte gab, war ein echter Glücksfall. Der Himmel wurde blau, Raben zogen vorüber, überquerten sie, kreisten. Wirklich ein großer Glücksfall. Gewiss, diese Finsternis verbreitete ihr Quantum an negativer Energie, und das verleitete einen nicht gerade dazu, in der Nähe sein Zelt aufzuschlagen, aber er dankte dem Himmel, dass er auf diesen schrecklichen Schlund gestoßen war – auch wenn er fast selbst von ihm verschlungen worden wäre. Die Spalte war ein zuverlässiger Verbündeter. Er hatte sich dort einmal drei Tage und drei Nächte lang versteckt, hatte schon damit gerechnet, dass er bei Einbruch der Nacht am ganzen Körper zittern würde, hatte im Voraus mit den Zähnen geklappert und gejammert wie jedes andere Kind in seinem Alter… Aber wider Erwarten und im Gegensatz zu seinen dunklen Vorahnungen hatte er sich beschützt, in Sicherheit und geborgen gefühlt, trotz der Grabesstille und der unendlichen Schwärze, die dort herrschten, und hätten ihn nicht Hunger und Durst gequält, die beißende Kälte geplagt, die Angst vor der zu erwartenden Bestrafung belastet, so hätte ihm sein Aufenthalt in der steinigen und moosigen Spalte ziemlich gut behagt. Der Geist, der hier umging, schien ihm gewogen zu sein. Er besaß auch die Fähigkeit, das Licht auszuschalten und die Tür hinter sich zu schließen. Den Riegel vorzuschieben.
Er schloß die Augen und wäre fast auf dem kalten Stein eingeschlafen. Aber nur fast, denn sobald er an Myriam dachte, schlug sein Herz stärker und sein Atem ging schneller. Darüber konnte er schwerlich hinwegsehen. Umso weniger, als es sich dabei um ein unbekanntes, für ihn gänzlich neues Gefühl handelte. Darauf hatte ihn niemand vorbereitet – der größte Witz war, dass er natürlich sattsam über dieses Gefühl geschrieben hatte, denn keine Geschichte funktionierte, wenn man es nicht zum Thema machte oder auf die eine oder andere Weise einbaute, die Ironie rührte also daher, dass er Tausende Seiten über eine Sache geschrieben hatte, von der er keine Ahnung hatte. Unglaublich. Viele seiner
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