Die Ratten im Maeuseberg
Vater, seine
Vorlieben, seine Eigenarten. Aber viel konnte ich damit nicht anfangen. Auch
das, was sie über ihre Gespräche mit dem Kranken in Sainte-Anne erzählte, war
keine Offenbarung. Ich zog meine kleine Surrealisten-Nummer ab und rezitierte
das Gedicht über die Schönheit der Büste. Man hatte mir schon häufiger gesagt,
daß ich eine große Zukunft beim Theater habe. Ich erzählte auch von Jakowskis
Büste, auf die der Text zugeschnitten war. Nichts weckte in Henriette eine
Erinnerung.
Als wir uns verabschiedeten,
war ich so klug wie zuvor.
Dunkelheit hüllte die Avenue
Reille ein. Vor mir erhob sich düster der Wasserspeicher von Montsouris. Da
drin waren mindestens zweihundert Millionen Liter Trinkwasser.
Zweihunderttausend Kubikmeter, verteilt auf unterirdische Gewölbe, deren
Pfeiler in immer kühlem, grünlich schimmerndem Wasser stehen. Und am Zugang zu
dem untersten Behälter verrichten die Forellen als Zeugen für sauberes Wasser
brav und still ihre Arbeit im öffentlichen Dienst.
Ich fuhr nach Hause, legte mich
ins Bett, konnte aber lange keinen Schlaf finden.
Als ich Raoul Castellenot in
meinem Zimmer sah, wußte ich, daß ich schlief. Er war mit dem Blut seiner Opfer
beschmiert. Dann kam Armand Gaudebert hinzu in seiner roten Robe. Und
Henriette, nackt unter dem Morgenmantel von Marie Courtenay, auf den roten Haaren
einen scharlachroten Witwenschleier.
Sie lachte.
* * *
„Ich glaub, jetzt hab ich was
rausgekriegt“, sagte ich. Henriette richtete ihre goldbraun leuchtenden Augen
auf mich. Gaudebert neigte sein fettes Gesicht zur Seite.
„Ja?“
„Ja. Die Perlen haben mehrmals
das Versteck gewechselt. Castellenot war ja nicht verrückt, wenn ich so sagen
darf. Eins der Verstecke war die Büste, von der ich Ihnen erzählt habe. Die
Texte, die er in Sainte-Anne schreibt, haben durchaus eine Bedeutung. Man muß
sie nur richtig interpretieren. Und ich bin davon überzeugt, daß meine
Interpretation richtig ist. Das Gedicht bezieht sich auf das Kunstobjekt meines
Freundes. Aber in diesem Objekt haben wir nichts gefunden. Reden wir also nicht
mehr darüber. Suchen wir lieber das Versteck, in dem Castellenot seine Beute
zuletzt versteckt hat. Wo hat er die letzte Zeit als freier Mann — psychisch
und physisch — verbracht? In diesem Viertel hier. Unter diesem Viertel,
besser gesagt. In den Katakomben. Und deswegen...“
Ich wischte mir mit einem
Taschentuch den Schweiß ab.
„...haben die Ratten von
Montsouris das Viertel unsicher gemacht, hauptsächlich die Keller und
Kellergeschosse...“ Gaudebert rief überrascht:
„Aber wie... wie...“
„Ja, Monsieur“, fuhr ich fort,
„auch diese Männer suchen die Perlen. Woher sie die Informationen haben, weiß
ich nicht. Aber höchstwahrscheinlich wollen sie die Beute nicht zurückgeben,
das können Sie mir wohl glauben...“
Ich wischte mir wieder den
Schweiß ab.
Sehen Sie, das Vorgehen der
Ratten unterscheidet sich zu sehr vom üblichen Vorgehen in dieser Branche. Und
bei Ihnen hofften sie, zusätzliche Hinweise zu finden...“
Ich wandte mich an Henriette:
„...Die Verbrecher wissen, daß
Sie die Tochter sind. Vielleicht hat Ihr Vater darüber gesprochen, als er noch
bei Verstand war... Genug, um die Ratten mit der Nase auf die Katakomben zu
stoßen. Aber nicht genug, daß sie wissen, wo genau sie suchen müssen. Und
deswegen klappern sie das ganze Viertel ab. Aber die Ratten von Montsouris
interessieren uns überhaupt nicht. Seit einiger Zeit hört man nichts mehr von
ihnen. Vielleicht haben sie’s aufgegeben... Für uns ist dieses Viertel
interessant. Hier sind möglicherweise die Perlen versteckt. Castellenots Texte
weisen auf eins der früheren Verstecke hin. Warum sollten sich nicht auch
Hinweise auf das jetzige finden lassen? Ich hab mir die Texte noch mal genauer
angesehen... und einen Satz gefunden, der sehr häufig wiederkehrt, ohne Bezug
zum Kontext. So als wollte er die Aufmerksamkeit des Lesers bewußt darauf
lenken: , Auf der Brust oder vor den Sternen schwimmen die Forellen wie Gebeine ...’ Forellen! Wo gibt’s hier im
Viertel Forellen? Im See vom Parc de Montsouris? Nein! Aber im Aquarium des
Wasserspeichers, gleich hier in der Nähe! Und der Speicher steht auf einer
Grube, die mit den Katakomben in Verbindung steht. Ich glaube, dort sollten wir
suchen. Im Aquarium, das heißt in der Mauer, vor der die Forellen
rumschwimmen...“
* * *
Ein paar Tage später rief mich
Armand Gaudebert
Weitere Kostenlose Bücher