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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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drückte sie seine Hand. »Wie konnten Sie sich nur dazu hinreißen lassen?«, fragte sie leise.
    »Meine Verhältnisse«, sagte er, ohne den Druck ihrer Hand zu erwidern, »erlauben es mir leider nicht, wie die anderen Mitglieder der Kommission ehrenamtlich zu arbeiten. Vielmehr bin ich gezwungen, mit meiner Tätigkeit Geld zu verdienen, auch wenn ich diesen Umstand noch so sehr als persönliche Demütigung empfinde.« Er hob den Blick und schaute sie an. »Doch sagen Sie mir, Miss Emily, wie sonst sollte ich eine Familie ernähren?«

4
     
    Tausende von Menschen, die ihren Wochenlohn in den Taschen trugen, schoben und drängten sich an diesem Samstagabend auf dem Markt von Covent Garden, der von Long Acre bis zum Strand und von der Bow Street bis zur Bedford Street jedes Fleckchen Erde in Beschlag nahm.
    Fast alle Stände, die zwischen den Eselskarren und Lastwagen mit ihren hoch gestellten Deichseln aufgebaut waren, wurden beleuchtet und angestrahlt: manche vom grellen weißen Licht neuer Dauerbrennergaslampen, andere von der roten rauchigen Flamme alter Ölfunzeln oder auch nur vom Schein einer Handvoll aufgesteckter Kerzen. Zusammen mit den kugelförmigen Milchglaslaternen der Teeläden und den Gaslichtern der Fleischereien, die wie Feuerschweife im Wind tanzten und flackerten, verbreiteten sie eine solche Lichterflut, dass der nächtliche Himmel über dem Markt so hell erstrahlte, als würde der ganze Platz brennen.
    Victor aber nahm von alledem nichts wahr. Er hatte eine solche Wut im Bauch, dass er nicht mal die mächtige Kuppel von St. Paul’s vor sich sah, als er sich mit Toby einen Weg durch das Gewühl bahnte. Sie waren den Polizisten, die die Chartistenversammlung aufgelöst hatten, nur mit knapper Not entkommen. Wie Diebe hatten sie sich davonmachen müssen, Hals über Kopf, obwohl sie es doch waren, die man bestohlen hatte. Ihr ganzes Geld hatten sie verloren –, ihr Geld und die Hoffnung auf ein neues, anderes, besseres Leben.
    »Ich hätte O’Connor erschlagen sollen«, fluchte Victor.
    »Bei mir hättest du es ja fast geschafft«, sagte Toby, der Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten.
    »Wenn ich wüsste, wo der Kerl wohnt, ich würde ihm die Bude anzünden.«
    »Vielleicht solltest du eine von denen da fragen, ob sie ein bisschenZeit für dich hat«, sagte Toby, als sie die Blumenmädchen vor den Arkaden passierten. »Das würde dir bestimmt gut tun.«
    »Woher willst du wissen, was mir gut tut, du kleiner Klugscheißer?«
    »Ich meine ja nur, damit du dich nicht so aufregst. So ein Mädchen kann eine verdammt beruhigende Wirkung haben.«
    »Danke für den Rat.« Victor marschierte weiter, ohne die Mädchen anzusehen. »Darin bist du ja Experte!«
    »Heiße Kastanien! Zwanzig Stück ein Penny!«
    Wie aus dem Nichts tauchte ein Maronenverkäufer vor Victor auf und versperrte ihm den Weg. Er packte ihn am Kragen und stieß ihn mit solcher Wucht beiseite, dass er gegen eine Schneiderpuppe taumelte, die vor einem Kleiderladen stand. Zusammen mit der Puppe fiel der Mann zu Boden, eine Apfelfrau, die einen Korb auf ihrer Schulter balancierte, glitt auf den Maronen aus und riss die Plane von einem Eselkarren mit sich fort. Eine Pyramide Kohlköpfe stürzte ein, kreischend stoben die Blumenmädchen auseinander, und ein blinder Bettler, der eben noch mit verdrehten Augen seine Verse gejammert hatte, suchte in großen Sätzen das Weite.
    »Bist du total verrückt geworden?«, schrie Toby. »Oder hast du wieder Sehnsucht nach der Tretmühle?«
    Am Gitter von St. Paul’s, wo Körbe und Strohpantoffeln hingen, blieb Victor stehen und drehte sich um. Erst jetzt, im roten Schein eines Kohlegrills, sah er, dass Tobys Gesicht ganz verschmiert war und seine Augen von Tränen glänzten.
    »Was hast du?«, fragte er. »Hast du Rauch ins Gesicht gekriegt?«
    »Ich will kein Ire mehr sein«, schniefte Toby und wischte sich mit dem Ärmel den Rotz von der Nase.
    »Seit wann denn das?«
    »O’Connor ist ein Verbrecher. Ein Betrüger und Verräter und Gauner. Er ist schlimmer als die Blutsauger in den Fabriken. Bei denen weiß man wenigstens, woran man ist.«
    Toby wirkte in seinen zerrissenen Lumpen noch kleiner als sonst, als wäre sein ganzer Körper vor lauter Enttäuschung in sich zusammengeschrumpft. An seiner Schläfe hatte sich eine riesige Beule gebildet, größer als ein Ei war sie unter der zum Platzen gespannten Haut angeschwollen.
    Victor wusste, wenn Toby sich nicht zwischen ihn und den Konstabler

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