Die Rebellin von Leiland 1: Maske (German Edition)
den jungen Mann abrupt stehen bleiben. Es stimmte, dass sein Benehmen nichts Würdiges an sich hatte. Er drehte sich um und wartete auf die Prinzessin, den Blick auf den Boden geheftet.
Als sie auf seiner Höhe angekommen war, ergriff sie seinen Arm und vergewisserte sich ein weiteres Mal, dass sie allein waren. Sie wandte sich einem Wandabschnitt zu und schob die Hand hinter ein Gemälde. Ein Mechanismus wurde ausgelöst: Die Wand drehte sich und enthüllte einen engen, dunklen Gang, der an einer Treppe endete, die ins Freie führte. Eline ging hinein und zog Andin mit. Sie kamen beide hinter einem Turm auf dem östlichen Wehrgang hinaus.
Vor dem Wind geschützt an die Wand gelehnt, deren weiße Steine sich in der Nacht deutlich abhoben, wandte die junge Prinzessin sich Andin zu.
»Sagt mir die Wahrheit«, bat sie außer Atem. »Die Maske und das Mädchen-mit-den-blauen-Augen sind ein und dieselbe Person, nicht wahr?«
Er schwieg.
»Prinz Andin, bitte, antwortet mir! Ich habe gesehen, wie sie den reglosen Soldaten ärztlich untersucht hat! Ihr Erstaunen über Eure Anwesenheit! Und sie hat meinen Vater mithilfe ihrer Augen zum Schweigen gebracht! Lügt mich nicht an, ich muss Euch nur ansehen, um zu wissen, dass Ihr sie liebt!«
Der junge Mann machte einige Schritte durch die Nacht, um sich dem Wind auszusetzen, dessen Heftigkeit und Kühle ihm guttaten. Er schloss die Augen, seine Lippen blieben versiegelt.
»Ich bitte Euch, beendet dieses Schweigen! Ich muss wissen, ob sie für oder gegen Seine Majestät handelt! Denkt an Elisa!«, stieß Eline hervor, denn ihr gingen die Argumente aus.
Der Blick der grünen Augen des jungen Mannes kam endlich auf ihr zu ruhen.
»Warum stellt Ihr mir die Frage, wenn Ihr doch die Antwort kennt?«
Elines Atemrhythmus beschleunigte sich von neuem.
»Und … wie lautet ihr Vorname?«, stammelte sie.
»Sie lässt sich mit dem Beinamen ›Victoria‹ anreden, um ihren wahren Namen zu verbergen.«
Das alles zu enthüllen hatte keinerlei Wirkung mehr auf ihn. Sein Herz reagierte nicht mehr; es war all der Geheimnisse und Kümmernisse müde.
»Also trägt sie einen Verbotenen Namen!«
Elines Worte waren ein Schrei gewesen. Eine Hand auf die Schleier gepresst erkannte sie, was ihr Verstand ihr schon seit langem zu sagen versucht hatte. Ihre Augen trübten sich. Endlich war sie sich sicher! Endlich verstand sie die letzten Worte ihrer Mutter!
Bevor sie gestorben war, hatte die Königin Eline gebeten, über ihre Schwestern zu wachen. Für Eline hatte es nur Elisa gegeben. Man hatte ihr gesagt, ihre kleine Schwester Elea sei tot. Mit ihren vier Jahren hatte sie nicht glauben können, dass ihre Mutter wahnsinnig geworden war, und in der Folgezeit hatte sie es sich nicht eingestehen können. Sie hatte noch niemandem von alledem erzählt, und je nach ihrem Alter hatte sie diesem Satz ihrer Mutter eine neue Bedeutung beigelegt. Siebzehn Jahre kannte sie nur Fragen ohne Antworten über den Geisteszustand der Königin. Eline hatte wirklich eine zweite Schwester. Die Wahrheit bereitete ihr ebenso viel Freude wie Schmerz.
»Was ist ein ›Verbotener Name‹?«, fragte Andin.
Eline lehnte den Kopf gegen die Mauer zurück, bevor sie antwortete.
»Diese Namen unterliegen den Verbotenen Gesetzen. Der Name eines jeden, der vom Hof als Mörder betrachtet wird, wird dieser Liste hinzugefügt. Selbst wenn der Betreffende tot ist, darf sein Name nicht mehr ausgesprochen werden – er ist aus dem Lande verbannt, bis Wiedergutmachung geleistet ist. Für die Leiländer ist der Name einer Person zugleich ihre Seele. Da nicht immer Gerechtigkeit geübt werden konnte, hat dieser Kunstgriff, der im Volk hohes Ansehen genießt, es einer langen Reihe leïlanischer Herrscher erlaubt, den Verbrechern jegliche Popularität zu nehmen und die wenigen empfindsamen Übeltäter zu treffen.«
»Sie ist keine Verbrecherin!«, rief er.
Die Erklärung hatte ihn aus seiner Erstarrung gelöst.
»Ich glaube Euch«, antwortete Eline. »Ich habe ihr meine Halskette gegeben, weil ich Eurem Urteil vertraue. Ich kenne die Finsternis der Gefühle und Taten des Herzogs von Alekant nur zu gut, so dass ich an dem, was sie gesagt hat, nicht zweifeln kann.«
Obwohl Victoria ihm wehgetan hatte, konnte Andin es nicht ertragen, dass sie so behandelt wurde. Niedergeschlagen trat er auf Eline zu und beteuerte abermals Victorias Unschuld. Er lehnte sich gegen die Brustwehr und zerknitterte so seinen Mantel, dessen Silberfutter
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