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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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nicht an den Vorfall zu denken, der sich wenige Stunden zuvor im Flur vor ihrem Zimmer ereignet hatte. Es war gar nichts passiert, redete sie sich ein, es war nur ein Traum. Eine heiße Welle flutete durch ihren Körper, ihr Schoß klopfte wie eine große Wunde. Sie fasste sich zwischen die Beine, als wollte sie den Strom aufhalten, der sich dort staute und hinauszufließen drohte. Ihr war schwindlig. Sie setzte sich auf die Treppe und barg den Kopf in den Händen. Im nächsten Augenblick sprang sie auf. Wenn Marcus nun hinunterkäme! Nie wieder konnte sie ihm in die Augen sehen, nie wieder wollte sie ihm begegnen. Wieso hatte sie ihm keine Ohrfeige gegeben, wieso hatte sie nur blöd dagestanden, wie eine Kuh, die gemolken wurde?
    Sie staunte, dass sie keine Wut auf ihren Cousin verspürte, im Gegenteil, die Schuld bei sich selber suchte. Sie erkannte mit einer Klarheit, die sie selber erschreckte, dass Marcus sie viel tiefer berührt hatte als nur da, wo sie noch niemand zuvor angefasst hatte. Sie erschrak vor ihrem eigenen Körper, der einen Willen zu haben schien, der zu ihrem Kopf in Widerspruch stand.
    Ich bin ein Tier, dachte sie erschüttert und versuchte gleichzeitig das wohlige Gefühl wieder zu erleben, das sie in jenem Moment verspürt hatte. Hing dies mit den geheimen Dingen der Nacht zusammen, die sich zwischen Frau und Mann abspielten, und von denen sich Irini ständig in Andeutungen erging? Aber von Händen hatte ihre Schwester nie gesprochen, nur von jenem Teil des Mannes, den sie eingehend auf den Abbildungen von klassischen Statuen in den Büchern ihres Vaters betrachtet hatte und von dem sie sich nur schwer vorstellen konnte, dass darin die berühmte Manneskraft ihren Ursprung haben sollte. Kleine Kinder steckten darin, die der Mann dann in den Körper der Frau katapultierte. Natürlich bin ich ein Tier, sagte sich Mando wieder, ein Tier, das sich fortpflanzen will – wie Irini und Antonis – und daher hat Gott meinen Sinn verwirrt. Aber er hat nicht aufgepasst und den falschen Mann meinen Pfad kreuzen lassen. Oder er will mich warnen. Oder mich prüfen. Ob ich stark genug bin, der Versuchung zu widerstehen.
    »Marcus«, sie sprach den Namen laut aus, sang ihn beinahe, sagte sich dann, als sie schweren Schrittes zu Irinis Zimmer ging, er ist ein Mann und ich bin eine Frau, aber es ist eine Sünde, denn in unseren Adern fließt das gleiche Blut.
    »Ich gratuliere der Tante!« Pappas Mavros' Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Der Priester umarmte sie. »Marcus hat mich informiert, bevor er in aller Frühe nach Mykonos zurückgefahren ist.« Er hielt sie etwas von sich ab und musterte ihr Gesicht. »Du bist ja blasser als deine Schwester! Ja, eine Geburt ist jedes Mal ein kleines Wunder, wenn auch ein anstrengendes. Angesichts des frohen Ereignisses sollten wir heute den Unterricht ausfallen lassen.«
    »Bitte nicht!«, brach es aus Mando heraus. Sie wollte nicht im Haus ihrer Schwester bleiben. Sie musste ihren Geist beschäftigen, um nicht verrückt zu werden. »Gerade heute kann ich sicher besonders gut lernen!«
    »Braucht deine Schwester dich denn nicht?«
    »Im Augenblick sind genügend Leute bei ihr. Das wird in den nächsten Tagen wohl anders werden.«
    Mit Schaudern dachte Mando daran, dass Irini nun vierzig Tage lang das Haus würde hüten müssen, da sie sich nicht auf der Straße zeigen und in Geschäften nicht bedient werden durfte. Die offizielle Begründung der orthodoxen Kirche für diese Art Hausarrest lautete, dass es eben so lange daure, bis der Teufel aus dem Leib der Mutter gefahren wäre, aber Vassiliki hatte Mando den wirklichen Grund genannt.
    »Früher haben die Frauen bis zur Stunde der Geburt auf den Feldern oder im Haus gearbeitet und gleich danach ihr Werk wieder aufgenommen. Viele starben dabei an Entkräftung. Was dir wie eine grausame Beschränkung der Freiheit vorkommt, ist in Wirklichkeit zum Schutz der Frauen erdacht worden.«
    Pappas Mavros zog etwas aus einer Tasche. »Hier, das kannst du deinen Neffen umhängen.«
    Er reichte ihr zwei kurze Ketten mit gläsernen Anhängern, die jeweils ein Auge symbolisierten. Mando schlug sich an die Stirn. Dass sie nicht selber daran gedacht hatte! Wie furchtbar, dass sie so viel mehr mit dem Durcheinander in ihrem eigenen Kopf beschäftigt gewesen war als mit der Tatsache, dass ihre Schwester unter Gefahr für ihr eigenes Leben zwei neue hervorgebracht hatte! Natürlich brauchten Irinis Kinder Schutz vor dem bösen Blick,

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