Die Rebellin
gegenüber nicht so loyal wäre, wäre ich jetzt wahrscheinlich in einem schönen Raum in Paris gefangen.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Meine Mutter hat Vassiliki gebeten mich mit irgendwelchen Kräutern bewusstlos zu machen oder zumindest außer Gefecht zu setzen. Dann sollte ich eiligst nach Paris geschafft werden …«
»… wo du schon immer hinwolltest, wenn ich mich recht erinnere«, schmunzelte Marcus.
»Aber Vassiliki hat mir alles erzählt. Jetzt habe ich Angst. Ja, ja, lach nur, die große Rednerin von Mykonos fürchtet sich vor ihrer kleinen zierlichen Mutter! Aber ich traue ihr alles zu. Sie wird sicher jemand anders finden, der dafür sorgt, dass ich meine Aufgabe nicht erfüllen kann. Marcus …« Sie sah ihren Cousin mit einem so verzweifelten Blick an, dass er sich zusammennehmen musste, sie nicht an sich zu drücken, »… ich kann dort nicht mehr wohnen bleiben. Du hast vor einiger Zeit etwas von einer verwegenen Idee gesagt …«
»… die wir augenblicklich in die Tat umsetzen werden. Komm.«
»Wohin?«
»Ins Haus meiner Mutter. Sie kennt deine Probleme, und du weißt, dass sie sich mit deiner Mutter noch nie verstanden hat.«
Mando blieb der Mund offen stehen. »Soll das heißen«, fragte sie vorsichtig, »dass ich in Zukunft mit dir unter einem Dach wohnen kann?!«
Er nickte. »Wir müssen natürlich sehr, sehr vorsichtig sein!«
Es kam zu einer sehr hässlichen Szene zwischen Mando und ihrer Mutter. Vassiliki musste nicht einmal das Ohr ans Schlüsselloch legen, das Geschrei schallte durchs ganze Haus. Am häufigsten fiel das Wort Schande. Welche Schande Mando ihrer Mutter und allen Angehörigen der Familie Mavrojenous machte! Welche Schande es war, dass sie sich so in der Öffentlichkeit hervortat! Welche Schande, dass eine junge Frau, die eine so gute und teure Erziehung genossen hatte, diese nur dazu nutzte, sich mit Angelegenheiten abzugeben, die Männer besser verstünden. Welche Schande, dass sie in ihrem Alter noch nicht verheiratet und Mutter war. Welche Schande, dass sie, Zakarati, eine solche Tochter hatte!
Das Ausmaß des Schreckens auf der Insel Chios kam Mando erst Monate später zu Ohren. Von den 100.000 Bewohnern der Insel waren 23.000 niedergemetzelt und 47.000 in die Sklaverei verkauft worden. Chios war verloren.
Aber dann erreichte endlich eine gute Nachricht Mykonos: Am 18. Juni 1822 jagte der griechische Admiral Konstantin Kanaris, das Flaggschiff des türkischen Admirals Kara Ali in die Luft und fügte der gesamten türkischen Flotte vor Chios so viel Schaden zu, dass sie eiligst die Insel verließ und sich Richtung Dardanellen absetzte. Auch sonst gab es für die griechischen Kämpfer erfreuliche Nachrichten. Der Feldherr Kolokotronis, inzwischen versehen mit dem Spitznamen ›der Alte von der Morea‹ – wie der Peloponnes auch genannt wurde – hatte zusammen mit Dimitri Ypsilanti die osmanische Armee unter General Dramali bei Delvenaki vernichtend geschlagen. Das hinderte einen anderen wichtigen Führer der Hetärie, Prinz Alexander Mavrokordatos, allerdings nicht daran, dem alten Klephtenchef vorzuwerfen, dass er falsche politische Ziele anstrebe. Es sei ja ganz in Ordnung, die Kampfkraft der Räuberbanden auszunutzen, aber nicht zu verantworten diesen ungebildeten Gesetzesbrechern irgendwelche Rechte zuzugestehen.
Mando verstand jetzt die Sorgen, die sich Pappas Mavros über die Zukunft eines freien Griechenlands gemacht hatte. Welche Richtung sollte so ein Staat einschlagen, wer sollte das Volk repräsentieren? Und wer war überhaupt das Volk?
»Da schlagen wir uns noch mit den Türken und schon gibt es Streit zwischen Brüdern«, sagte sie kopfschüttelnd zu Marcus.
»Kolokotronis kennt das einfache Volk, er weiß, dass die Analphabeten die Sprache der Politiker nicht verstehen, und er kämpft für die kleinen Bauern und die Leibeigenen.«
»Sehr edel«, bemerkte Mando, »aber solche Leute haben nicht die Fähigkeit zu regieren!«
»Vielleicht nicht, aber eine demokratische Regierung muss auch die Bedürfnisse der weniger Bemittelten berücksichtigen. Unter anderem bedeutet das auch, sie auszubilden. Du weißt schon: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.«
Sie lagen auf Mandos Bett und hielten einander in den Armen. Wie geschickt er alles eingefädelt hat, dachte Mando und meinte damit nicht Kolokotronis, sondern Marcus. Dessen Mutter war entsetzt gewesen, als sich Mando für das kleine Zimmer unter dem Dach entschieden
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