Die rebellische Republik / Warum wir uns nicht für dumm verkaufen lassen
schreibt Björn Erichsen im
stern,
»es zeigt aber, dass die Möglichkeit zur direkten Abstimmung allein noch lange nicht dazu führt, dass die Interessen der Bürger besser vertreten werden.« [628]
Die rege Beteiligung bei weitestgehender Inkompetenz ist aber auch nicht viel besser. Da könnte man das Ergebnis gleich auswürfeln, was schneller ginge und billiger wäre. So kostete der gescheiterte Berliner Volksentscheid Pro Reli rund 3 , 2 Millionen Euro. [629]
Eine Abstimmung bei mangelnder Sachkenntnis der Stimmberechtigten aber ruft zwangsläufig die Demagogen auf den Plan: Die Plebiszite werden dominiert von denjenigen, die die meisten Mittel haben, um sich Fernseh-, Radiospots und Plakate leisten zu können. Und da Otto Normalwähler nur selten Zeit hat, sich in komplexe Sachfragen einzuarbeiten, würde am Schluss mit großer Wahrscheinlichkeit das griffigste Wahlversprechen gewinnen, wie Erichsen zu Recht befürchtet.
Nur nennt er mit der Ablehnung des Verkaufs städtischer Hamburger Kliniken an Privat im Jahr 2004 das denkbar schlechteste Beispiel: »… gegen den Slogan ›Gesundheit ist keine Ware‹ war die Vernunft im Volksentscheid … chancenlos.« [630] Was Erichsen nicht erwähnt: Der Senat ließ die »Vernunft« walten und verkaufte noch im selben Jahr trotzdem an den Asklepios-Konzern. Resultat: Schon im Juni 2007 hatten 1000 privatisierte Ärzte, Schwestern und andere Mitarbeiter die Nase voll und pochten auf ihr damals schriftlich garantiertes Recht auf Rückkehr in eine staatliche Klinik. [631]
Auch hier erwiesen sich also die Politiker als um keinen Deut kompetenter als die »breite Masse«. Und dann erscheint es besser, die Bevölkerung selbst entscheiden zu lassen; so können sie die Schuld auch keinem anderen geben. Dafür spricht auch die längst nachgewiesene »kollektive Intelligenz«. [632] Sogar bei Ratespielen erleben wir das Phänomen, dass zum Beispiel beim Schätzen der Anzahl von Reiskörnern in einem Riesensack fast immer der Publikumsdurchschnitt näher dran ist als die Kandidaten.
Demagogie ist keine Besonderheit von Volksentscheiden. Die Wahlkämpfe und die Tagespolitik bestehen fast ausschließlich daraus: Da wird jedes Geschenk an die Reichen und Mächtigen, jeder Sozialabbau beim Normalbürger zum »alternativlosen Sachzwang«, der Raubtierkapitalismus zur »Neuen Sozialen Marktwirtschaft«, jede asoziale Maßnahme zur »Reform« und so weiter undsoweiter.
Mit der Begründung, Volksentscheide hielten nur den Betrieb unnötig auf, müsste man eigentlich unser heutiges System mit Bundestag, Bundesrat, Vermittlungsausschuss und Expertenanhörung ebenfalls als zu zeitraubend ablehnen und eine Diktatur vorziehen, in der dieser ganze »demokratische Firlefanz« wegfällt.
Fest steht: Volksentscheide werden erst dann zum wirklichen Bestandteil direkter Demokratie, wenn die Bürger bereit zur aktiven Mitwirkung, entsprechend politisch gebildet und kritisch sind. Gerade bei Letzterem aber können staatliche oder private Schulen, Unis und Medien nur eine begrenzte Hilfe sein. Dass zum Beispiel zunehmend auch staatliche Unis von Konzernen finanziert werden, erhärtet den Verdacht, dass als Gegenleistung die Produktion »arbeitsmarkttauglicher Fachkräfte«, also kritikloser, unpolitischer Fachidioten, erwartet wird – und dass die Hochschulen dieser Erwartung auch zusehends gerecht werden. So bleibt dem Bürger oder den Initiativen nur, ihre Bildung selbst zu organisieren – und gleichzeitig die offiziellen Anforderungen zu erfüllen: Studienabbruch oder Jobkündigung sind nicht fortschrittlich.
Alle Macht dem Volk?
Bis also der Volksentscheid der mündigen Bürger zum wichtigen Mittel direkter Demokratie wird, bleibt als eine Art Zwischenschritt die Direktwahl, auf die seitens der Politik besonders allergisch reagiert wird: Kein Wunder, denn der Artikel 20 , Absatz 2 des Grundgesetzes verpflichtet zur Gewaltenteilung
»Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.« Auf Deutsch: Das Parlament als Gesetzgeber, die Regierung als Gesetzanwender und die Justiz als Wächter der Gesetzesbefolgung dürfen nicht miteinander verwoben oder gar voneinander abhängig sein.
Aber Papier ist geduldig, findet der Dresdner Verwaltungsrichter Udo Hochschild:
»Wer in Deutschland nach der Verfassungswirklichkeit gefragt wird, pflegt oftmals nur
Weitere Kostenlose Bücher