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Die rechte Hand Gottes

Die rechte Hand Gottes

Titel: Die rechte Hand Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Folco
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Achten, und die Nachfolge ist gesichert.«
    »Was meinen sie mit Tradition?«
    Léon wurde verlegen. Er hatte noch nie mit einem Fremden über diese Dinge gesprochen.
    »Nun ... ehm ... sie enthält, sagen wir, alles, was man wissen muß, um ein vollkommener Scharfrichter zu werden. Sie stammt von unserem Vorfahren und Begründer. Er hat sie geschrieben. Zum einen ist sie in seinen Erinnerungen enthalten, zum anderen in einem Buch mit dem Titel Die Tradition, das er verfaßt hat. Sie wurde nie verändert, außer von dem Rächer, aber eigentlich hat auch er sie nicht verändert, sondern eher vervollständigt, indem er ihr eine Gebrauchsanweisung für das richtige Köpfen hinzugefügt hat. Sogar Charles Henri ist aus Paris gekommen, um sie abzuschreiben.«
    »Und wer ist Charles Henri?«
    » Charles Henri Sanson war der Oberste Henker von Paris während der Revolution. Er hat auch Ludwig XVI. geköpft.«
    »Hmm ...«, brummte Malzae düster. »Und in welcher Form wurde Ihnen diese Tradition vermittelt?«
    »Wie in der Schule. Mit Kapiteln, die ich auswendig lernen mußte. Aufgaben und praktische Übungen.«
    »Praktische Übungen?«
    »Nun ... ich weiß nicht mehr... das ist so lange her... Ich muß überlegen ... Also zum Beispiel mußte ich an meinem siebten Geburtstag meine erste Ziege köpfen. Es ist mir nicht gelungen, es war ein wahres Gemetzel. Ich habe null von zwanzig möglichen Punkten bekommen.«
    »Und dann?«
    »Da die Tradition es verbot, zur nächsten Übung überzugehen, solange man die vorhergehende nicht fehlerlos ausführen konnte, mußte ich sie wiederholen, bis ich sie beherrschte ... Ich war nicht sonderlich geschickt, und das betrübte meinen Vater. Auf diese Weise habe ich etwa zwanzig Ziegen auf dem Gewissen.«
    Léons Ton war zugleich ironisch und bitter.
    » Hat Ihr Vater Sie geschlagen?«
    »Nie. Obwohl mir das manchmal lieber gewesen wäre. Wenn er böse auf mich war, verhielt er sich so, als wäre ich unsichtbar, und alle anderen im Haus mußten es ihm gleichtun... Sie können sich nicht vorstellen, was das für Auswirkungen hatte. Einmal hat es vier Tage gedauert. Vier grauenvolle Tage. Ich redete mit dem Hund, mit den Pferden, mit den Eidechsen in der Krypta.«
    »Was hatten Sie denn verbrochen?«
    »Ich hatte sein Messer in den Brunnen fallen lassen. Oh, ich weiß, das klingt recht unbedeutend. Aber es war nicht irgendein Messer. Es war eine Reliquie, denn es hatte unserem Vorfahren und Begründer gehört und wird vom Vater auf den Sohn vererbt.«
    »Und warum vier Tage?«
    » Solange hat es gedauert, um es wieder aus dem Brunnen zu holen.«
    Léon schenkte dem Anwalt noch ein Glas Portwein ein und rief den Lehrling:
    »Fernand! Bring uns etwas Gebäck! «
    Malzac deutete beschämt auf den leeren Teller, auf dem die gefüllten Datteln gelegen hatten.
    » Sie sind so gut, daß ich, ohne acht zu geben, alle gegessen habe. Sie sind wirklich ausgezeichnet.«
    »Ich weiß, ich bin auch sehr um meine Backwaren bemüht. Mit einem Namen wie dem meinen habe ich keine andere Wahl. Wer würde schon bei der >Henkersbrut< kaufen, wenn ich nicht der beste in Bellerocaille wäre? Das ist die einzige Art, die Vorurteile zu überwinden.«
    Ein großer, kräftiger Lehrbursche brachte einen Teller mit Gebäckringen. Der Anwalt nahm einen und biß hinein. Er war warm, duftend und köstlich.
    »Casimir hat mir das Brotbacken beigebracht. In der Tradition steht, daß man autonom sein muß. So habe ich gelernt, mit dem Gewehr und mit der Pistole zu schießen, den Acker zu bearbeiten, zu reiten und noch vieles mehr. Doch es war der Geruch des Mehls und der Hefe, das Teigkneten und -formen, zuzusehen wie er im Ofen goldbraun wurde, was mir am meisten gefallen hat. Ich könnte gar nicht sagen, warum.«
    »Wer ist Casimir?«
    »Der Henkersknecht meines Vaters. Er ist bei uns im Haus geboren. Er wohnt im Südturm, der von jeher den Henkersknechten und ihren Familien vorbehalten war. Der Erste hat ihn zu der Zeit erbauen lassen, als er acht Knechte hatte. Sie trugen eine Livree in den Farben der Familie und waren bewaffnet.«
    »Der Erste?«
    »Man nennt ihn auch den Vorfahren und Begründer, denn er war der erste Justinien der Linie ... Das Merkwürdigste ist, daß er eigentlich gar kein Henker werden wollte. Man hat ihn dazu gezwungen. Und wissen Sie, wer ihn gezwungen hat? Ein Vorfahre des heutigen Bürgermeisters von Bellerocaille, der damalige Baron Raoul Boutefeux. Sein Nachfahr ist jetzt ein >Roter<, der

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