Die Regentin (German Edition)
glitt ihr Blick auch jetzt zu den Kelchen hoch, die mit Edelsteinen und Gold versehen waren, zu den Sakramentstürmen und den glänzenden Kandelabern, zur Monstranz, die ganz mit Silber überzogen war – und sie kam nicht umhin, sich zu befragen, ob sie die heiligen Gegenstände erneut beschmutzte, diesmal nicht, weil sie sie auf dreckigen Boden fallen ließ, sondern durch ihre bloße Gegenwart.
Bischofsmörderin.
Dieses Mal nicht unwissentlich wie beim Tod von Aunemund, sondern beabsichtigt. Wenn Sigobrand nicht gestand und wenn er darob ermordet wurde, dann war es gleichsam so, als stürbe er durch ihre eigene Hand.
Sie neigte ihren Kopf so tief, dass er beinahe ihre Knie berührte. Sollte sie seine Schuld nicht lieber erst erproben, ehe sie die äußerste Strafe vorsah?
Für Fälle wie diesen sahen die Gesetze eine Prüfung vor, und diese verlangte, dass der Angeklagte einen Ring aus der glühenden Asche holte. Blieb seine Hand unversehrt, war er unschuldig. Verbrannte er sich jedoch, galt sein Vergehen als erwiesen.
Freilich, und das hämmerte ihr fortwährend durch den Kopf, ihr Hadern wurde nicht vom Verdacht bedingt, dass Sigobrand vielleicht doch unschuldig war. Wenn Ebroin ihn gefangen nehmen ließ, dann hatte er gewiss gute Gründe dafür. Es bedurfte auch nicht vieler Mühe, sich vorzustellen, wie viele Feinde sie hatte. Die Todesurteile, die Ebroin in ihrem Namen in den letzten Jahren ausgesprochen hatte, waren gewiss nicht Grausamkeit, sondern notwendiger Schutz.
Aber warum nur wieder ein Bischof, wo doch jeder wusste, dass ein Mord an einem solchen ein größerer Frevel war als der an jedem anderen Menschen?
Stöhnend hob sie den Kopf, stand auf, trat langsam zum Altar. Zum ersten Mal war sie dankbar, dass ihr Ebroin seinerzeit seine Pläne mit Aunemund verschwiegen hatte. Wie sehr sie sich wünschte, er würde auch diesmal im Geheimen handeln – und hätte sie das grausame Bild vom gefolterten Bischof nicht sehen lassen, hätte sie nicht dazu getrieben, selbst auf ihn einzuschlagen.
»Allmächtiger Vater! Hilf mir!«
Ratsuchend blickte sie sich um. Wiewohl nicht zu hoffen stand, dass sich irgendeine helfende Stimme erhöbe und ihr sagte, was zu tun sei, so fiel ihr doch ein Mittel ein, den himmlischen Ratschluss zu ergründen. Nicht nur mit der Aschenprobe gelänge solches, hatte sie einmal gehört, sondern auch mit der Heiligen Schrift. Man müsste die Bücher Mose, den Psalter und das Evangeliar willkürlich aufschlagen – am besten am Grab eines Heiligen oder, sofern ein solches nicht vorhanden, am Altar – und den ersten Vers, auf den der Blick falle, als Antwort auf sein Ansuchen verstehen.
Bathildis wusste, dass mancher Priester es nicht gerne sah, wenn Ungeweihte – vor allem eine Frau – die heiligen Bücher berührten. Doch was war dieses Vergehen, gemessen an dem bevorstehenden Verbrechen, das sie abzusegnen hatte oder zu verhindern?
Die Bücher lagen auf dem Altar: der Psalter, die Bücher Mose, die Evangelien. Sie griff danach, und alsbald vermischte sich der trocken-staubige Geruch von Pergament mit der feuchten Luft in der Kapelle.
Das Erste Buch Mose.
Der Vers, auf den ihr Blick als Erstes fiel, lautete: Salva ani-mam tuam noli repicere post tergum.
Errette deine Seele und dreh dich nicht um.
Das zweite Buch.
Der Psalter.
Oblitus est Deus avertit faciem suam ne videat in finem.
Gott hat es vergessen; er hat sein Antlitz verborgen, er wird es nicht mehr sehen.
Bevor sie das Evangeliar ergriff, starrte Bathildis lange auf die gewölbte Decke, ehe sie den Blick senkte, eine Seite aufschlug und auf einen der Verse gleiten ließ.
Das Evangelium nach Matthäus.
Sequere me et dimitte mortuos sepelire mortuos suos.
Folge mir nach und lass die Toten ihre Toten begraben.
Sie hatte ihn kaum gelesen, da fiel sie wieder auf die Knie, kraftlos wie vorhin, doch auch unsäglich erleichtert.
»Hab Dank, Herr, hab Dank!«
Die Botschaft, nach der sie gelechzt hatte, hatte sie klar und deutlich gefunden. Nicht verwirrend hatte der Allmächtige zu ihr gesprochen, sondern in Sätzen, die in verschiedenen Worten dasselbe sagten: Was immer in dieser Nacht geschah, welche Entscheidung auch anstand, welches Verbrechen sich im Morgengrauen ereignen würde – Gott selbst war bereit, darüber hinwegzusehen, und es zu vergessen. Gleiches riet er auch ihr: Sich nicht umzudrehen, nicht zurückzuschauen, die Toten den Toten zu überlassen – und zählte Sigobrand nicht schon längst zu
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