Die Regentin (German Edition)
Und wer mir zu folgen wagt, der soll des Todes sein!«
Sie fühlte die Blicke auf sich ruhen, verstörte und verängstigte, von Menschen stammend, die gewiss meinten, sie sei von Sinnen, von einem bösen Geist besessen, der sich ihrer hinterlistig bemächtigt hatte. Gleichwohl wagte keiner, sich ihr zu widersetzen, und so ward denn schließlich knirschend das Tor geöffnet, und sie schritt hindurch in eine Welt, die nur aus Schatten bestand und befremdenden Geräuschen. Am Tage wäre es ein Leichtes gewesen zu erahnen, woher diese stammten – vom Fluss, von greinenden Vögeln, vom Wind, der Baumwipfel zerzauste und an wackeligen Bauten rüttelte. Nun freilich, verschluckt von Schwärze, wurde daraus ein klagender, mahnender, kichernder Singsang unruhiger Spukgestalten. Bathildis wähnte deren Augen auf sich ruhen so wie vorhin die der Lebenden, und während sie, planlos zwar, aber doch beherrschten Schrittes, immer weiter ging, fragte sie sich gleich jenen unsichtbaren Gaffern, ob sie tatsächlich den Verstand verloren hatte, ob jener Teil, der einst geschworen hatte, Aidan wiederzusehen und darauf hinzuleben, zu groß war, um – nun abgestorben und gefällt – genügend Reste ihrer Seele zurückzulassen.
Die Bibelverse kamen ihr erneut in den Sinn, die sie vorhin aufgeschlagen hatte. Eine Entscheidung, was mit Sigobrand zu geschehen hätte, hatte sie daraus abgelesen, doch nun bekundeten sie anderes: dass es längst Zeit gewesen wäre, Aidan aufzugeben.
Gott hat’s vergessen, er hat sein Antlitz verborgen.
Errette deine Seele und dreh dich nicht um.
Lass die Toten die Toten begraben.
»Gott verfluche dich, du treuloser, erbärmlicher Feigling!«
Es war die eigene Stimme, die da durch die nachtklare Luft hallte, verschluckt alsbald von den Bäumen, die hier nun dichter standen, als Vorboten des endlos scheinenden Waldes, der sich an Paris anschloss, durchbrochen einzig von den Ländereien mancher Grundbesitzer und von einem Hügel, dem Mons luco-ticius . Dort war zu Ehren des Heiligen Petrus, jenes Apostels,der den Herrn verleugnet hatte und später doch zum Hirten seiner Schafe bestimmt worden war, eine Kirche errichtet worden – größer noch als die Kirche des Heiligen Vincent, gleichfalls am linken Flussufer gelegen, oder die des Heiligen Étienne auf der Insel. Bathildis war nun nicht mehr weit von jener Stadtmauer entfernt, die einst die Römer errichtet hatten und die, anders als in anderen Städten, nicht zerstört worden war. Die armselige Vorstadt wartete dahinter, wo die Armen hausten, in kreisrunden Holzhütten, die zwar eine Feuerstelle hatten, aber kein Mobiliar, nicht einmal Geschirr oder Brennholz, sodass die Bewohner auf jene Trinkgefäße angewiesen waren, die man – als Gnadenakt für sie – an den öffentlichen Brunnen angebracht hatte.
Erstmals blieb sie stehen. Dass sie befähigt war, auf Aidan zu schimpfen, bekundete, dass nicht die Erinnerung an ihn das Schmerzhafte, Unerträgliche war, sondern der Gedanke an die vielen Reichtümer, die sie an ihn vergeudet hatte: nicht Gold noch Schmuck, kein Land, jedoch das Kostbarste, was sie zu geben hatte – Sturheit und Unbeugsamkeit, ein fester Wille und... Liebe.
»Du treuloser, erbärmlicher Feigling!«
Wieder sagte sie es, doch diesmal blieben ihr die Worte, so kummervoll wie verächtlich, im Munde stecken. Eben hatte sie noch gedacht, sie wäre zur Furcht nicht länger fähig – da zuckte sie jäh zusammen, spürte, wie sämtliche Haare sich ihr sträubten, wie sie ein Schauder überlief.
Schritte.
Vorsichtige, schleichende Schritte.
Mit klopfendem Herzen drehte sie sich um, stierte in die schwarze Nacht, spitzte die Ohren – doch jedes Geräusch wurde vom eigenen, lauten Atmen übertönt.
»Wer... wer ist da?«
Die heimtückischen Augen der Nacht schienen sich aufs Tausendfache zu vermehren, sie einzukreisen, schienen ihrer zuspotten, die sie eben noch dem vernünftigen Denken abgeschworen hatte und nun so schnell zurechtgestutzt war auf das, was den Menschen ausmacht, wenn alles Hehre, Heldenhafte, Tugendhafte von ihm abfällt: der Drang zu leben.
»Wer... wer ist da?«, schrie Bathildis.
Wieder hörte sie das Knacken, wieder die Ahnung von leisen Schritten. Unterdrückt schrie sie auf, als sich eine Hand nach ihr ausstreckte und sie berührte.
Das Erschrecken traf sie wie ein Schlag. Auch als es in der Erkenntnis verpuffte, dass sie keinen böswilligen Angreifer vor sich hatte, sondern eine echte Freundin, hielt es
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