Die Regentin (German Edition)
blies ihr immer heftiger ins Gesicht und riss büschelweise das Laub von den Bäumen, um es alsbald auf dem Weg zu verstreuen. Er lag nun nicht mehr grau und verkrustet vor ihr, sondern in blasses Rot und Gelb gekleidet.
So beherzt sie anfangs gegangen war, so zögernd gerieten ihre Schritte, als der Weg sich gabelte und sie, die eine Richtung wählend, auf einer Straße landete, die Schritt für Schritt schmaler wurde. All ihre Sinne waren auf ein menschliches Geräusch ausgerichtet, doch laut wurde einzig die Stimme, die in ihr selbst sprach und sie daran gemahnte, dass es ratsam wäre, bald den Wald zu verlassen: Ein Hort der Dämonen und der dunklen Mächte war er, die keinen mehr aus ihren Fängen entließen, der sich dorthin verirrt hatte.
Nun, verirren konnte sie sich nicht – dazu fehlte ihr das Ziel. Vielleicht lag schon hinter der nächsten Ecke ein Dorf, vielleicht aber war sie in einer Einöde gefangen, die mehrere Tagesmärsche verlangte, ehe sich wieder eine Siedlung finden ließ.
Als ihre Füße wund gelaufen waren und der Wind immer schneidender wurde, ließ sie sich im Schatten eines dürren Baumes nieder, an dem nur noch vereinzelt Laub zitterte.
Einmal hatte sie Sicho dabei zugesehen, wie er Feuer machte, doch der Stein, den er dazu nutzte, befand sich nicht im Lederbeutel mit der Nahrung, und das Geäst, das sie sammelte, ließ sich in einer Mulde nicht so lange reiben, bis es Funken warf, sondern zerbröselte faulig und durchnässt in ihren Händen.
Mutlos krümmte sich Bathildis zusammen, um auf ihrem zitternden Schoß den Inhalt des Lederbeutels auszubreiten. Am Morgen hatte sie beschlossen, sparsam mit der Nahrung umzugehen, nun jedoch, da sie die mickrigen Bissen besah, wusste sie, dass sie nichts übrig lassen konnte. Hungrig und zugleich würgend stopfte sie alles in sich hinein, was Sicho hinterlassen hatte, doch anstatt sich mit jedem Bissen gesättigter zu fühlen, schienen sich in ihrem Magen nur noch mehr Furcht und Qual und Einsamkeit anzustauen.
Sie weinte frierend und kauend – und hemmungslos. Irgendwann versiegten die Tränen, doch mit ihnen auch alle Kräfte. Sie fiel in Schlaf wie in einen dunklen, tiefen Brunnenschacht,aus dem es kein Entrinnen mehr gab. Mächtiger noch war er als die Kälte.
Morgenlicht fiel durch die kahlen Baumkronen, als sie endlich erwachte. Ihre Glieder waren so steif, dass sie vermeinte, nie wieder gehen zu können, und als sie sich ächzend aufrichtete, stachen grässliche Schmerzen in ihre Zehen, wanderten hoch bis zur Leibesmitte und strahlten bis in die Hände.
Doch das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, was sie erblickte. Es hatte zu schneien begonnen.
Der Schnee fiel und fiel, zuerst in fetten weißen Flocken, lautlos und weich, dann durchsichtig und spitz, als wäre er beinahe schon zum Regen getaut. Unauffindbar war die Spur von gestern – und der mögliche Weg von morgen. Die erste Schicht machte aus der Welt den Spiegel eines weißen Himmels. Die zweite jedoch taute rasch zu nassen Pfützen, die das Stapfen noch schwerer machten. In jede kleinste Ritze – zwischen dem Leinenkleid und ihren Händen, zwischen Sichos Ledermantel und ihrem Nacken und zwischen den um die Füße gebundenen Fetzen und den Schenkeln troff ein dünner, kalter Fluss. Bathildis fror so sehr, dass sie es kaum spürte – umso mehr aber war ihr bewusst, dass jeder Schritt mehr an ihren Kräften zehrte und von ihr alsbald nur ein mageres, zittriges Häuflein bleiben würde, schon längst nicht von Hoffnung und Hunger genährt, sondern einzig vom Trotz, nicht aufzugeben.
Sie war es Aidan schuldig. Sie hatte ihm versprochen zu überleben. Sie wusste nur nicht, wie sie das dem Tod erklären sollte, der zwischen den dürren Bäumen hockte, sie zwar nicht wie ein zähnefletschendes Untier anfiel, jedoch darauf zu warten schien, bis sie zusammenbrach – gleich jenen Aasvögeln, die an Kadavern picken.
Um die Beine immer wieder aus der feuchten weißen, weichen Masse hervorzuziehen, bedurfte es am Ende der Kraft der Arme. Sie packte ihr Knie, zerrte es hoch und ächzte dabeilaut – zum Preis, dass die kalte Luft ihr in den Mund schnitt und das Atmen noch schwerer machte. Anfangs war sie bei jedem Schritt, den sie tun konnte, stolz. Dann begann sie zu zählen, wie viele sie noch schaffen würde. Fünf? Zehn?
Sie lehnte sich an einen Baum, die Rinde nass und durchweicht wie ihre Kleidung. Ob sie an Sichos Seite überlebt hätte? Ob nicht auch er sich in
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