Die Regentin (German Edition)
und Hände. Anfangs lauschte sie auf jedes Geräusch, das vom Weg kam, doch bis auf das Gezeter der Vögel und das Rascheln der Waldestiere war nichts zu hören.
Mit der Zeit begriff sie, dass die Männer des Dorfes sich lieber über die Weinamphoren hermachten, als nach ihr zu suchen. Sie hatten ihre eigenen Weiber – sie brauchten sie nicht.
Dennoch wartete sie bis zur Abenddämmerung, um ihr sicheres Versteck zu verlassen, auch dann nur widerstrebend und weil ihr frierender Leib in Erdennähe mehr Wärme erhoffte. Nun freilich, da keine Sonnenstrahlen ihn mehr kitzelten, war der Boden klamm. Halb auf dem Weg, halb im schützenden Wald gehend, schlich sie sich an das verwaiste Fuhrwerk – ein dunkler Schatten, der den Weg verstellte.
Zuerst scheute sie sich, Sicho umzudrehen und nach Lebensspurenzu suchen. Schließlich packte sie ihn, ohne hinzusehen, an der Schulter und wälzte ihn um, sodass er auf dem Rücken lag. Ob des fehlenden Lichts war alles farblos und das Blut, das in seinen Zügen verkrustete, schwarz. Sein Gesicht war eine einzige klaffende Wunde – nur ein Auge war heil geblieben und starrte sie blicklos an.
Ihr graute vor dem Anblick, und zugleich befiel sie – über ihm kniend und mit sämtlicher Gewalt über seinen toten Leib – die Genugtuung, ihn loszusein. Diesmal war sie nicht gebremst von der Furcht vor Einsamkeit. Sie ließ ihn los, als könne die Berührung mit ihm den eigenen Leib mit Krätze überziehen, packte ihn dann erneut, um ihn wütend zu schütteln. Anfangs konnte sie seinen schweren Kopf kaum bewegen, dann freilich, als sie in die bleierne Stille hineinzuschreien begann, war es ein Leichtes, ihn wieder und wieder zu heben und grob auf die Erde fallen zu lassen.
»Du Verdammter! Du Verdammter!«, verfluchte sie ihn. »Wie konntest du es wagen, mich derart zu beschmutzen? Was hast du dir gedacht, dich an mir zu vergreifen? Wusstest du nicht, wer ich bin? Im Höllenfeuer sollst du schmoren für all das Schändliche, was du mir angetan hast!«
Einmal meinte sie, ein Zucken zu erfühlen. Doch selbst, wenn das der Beweis gewesen wäre, dass er noch lebte, kam jener zu spät. Angst und Ohnmacht und Kälte schürten ihre Wut, ließen sie aufspringen, auf ihn eintreten, nicht minder grob als das Diebespack. Was jenes heil gelassen hatte, zerstörte sie, stampfte sein Gesicht zu Brei, ließ alle Knochen durch Tritte zerbersten.
Als die Nacht sämtliches Grau geschluckt hatte, versiegten ihr die Kräfte und mit ihnen ihr gerechter Zorn; hilflos sank sie zusammen und störte sich nicht daran, dass sie direkt neben Sicho zu liegen kam. In Wahrheit suchte sie sogar die restliche Wärme, die der langsam verwesende Leib ausstrahlte. »Was soll ich nur machen ohne dich?«, war das Letzte, was sie heulte. »Was soll ich nur machen?«
Hernach schien der Geruch nach salzigem Blut und Fäulnis sämtliche Gedanken zu ersticken. Erst am nächsten Morgen, als sie aus einem unruhigen Schlaf erwachte, fiel ihr ein, was sie tun konnte und wo ihr vielleicht Hilfe blühte.
Schwer fiel es, bei Tageslicht Sichos geschundenen Körper zu inspizieren. Sie tat es dennoch, wenngleich mit abgewandtem Gesicht, riss ihm die Kleider vom Leib, um seine kleinen Lederbeutel zu suchen, die er an den Gürtel gebunden trug: den einen fürs Geld, den anderen für Nahrung. Geld fand sie keines, getrocknetes Fleisch und getrocknetes Obst aber schon, wenngleich es aus dem Beutel so stank wie von seinem Leib: etwas süßlich und zugleich modrig.
Fast nackt lag er da, als sie ihn zurückließ, denn obgleich er blutbefleckt war, stahl sie dem Toten auch den Mantel. Als sie ihn ihm auszog, erahnte sie zwischen den zerrissenen Hosen, klein und runzelig, den roten Wurm.
Schaudern überkam sie, und den ersten Teil der Wegstrecke brachte sie laufend hinter sich. Sie wurde erst langsamer, als der Wind ihr so kalt in die Kehle schnitt, dass die ganze Brust schmerzte. Über Nacht hatte es sich fühlbar abgekühlt, und wenn sie überleben wollte, so musste sie rasch das finden, was ihr heute Morgen als letzte Zufluchtsstätte eingefallen war: ein Kloster.
Gewiss, auf einen Mann Gottes wie der Mönch Answin einer war, war nicht zu setzen, doch wo immer Brüder oder Schwestern in einer Gemeinschaft zusammenlebten, galt das Gebot der Gastfreundschaft. Sie sah zwar aus wie eine Bettlerin, aber vielleicht würde sie mit ihrer Kenntnis der lateinischen Sprache jemanden davon überzeugen können, wer sie in Wahrheit war.
Der Wind
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