Die Reise in die Dunkelheit
blieb kreiselnd direkt vor Tarans Nase liegen.
Jetzt lief die Zeit wieder schneller. War eine Sekunde vergangen? Oder mehr? Instinktiv drückte sich der Stalker mit den Händen ab und ließ sich in den Schacht zurückfallen. Dabei stieß er unwillkürlich einen Schrei aus. Für einen Augenblick packte ihn das flaue Gefühl der Schwerelosigkeit. Erst jetzt wurde dem Stalker bewusst, dass seine Hände sich an einer Sprosse der Strickleiter festkrallten. Er fiel gleichsam ins Seil und wurde infolge seines eigenen Schwungs durch das Loch im Schacht geschleudert. Nach einem halsbrecherischen Überschlag blieb Taran im Dreck liegen und legte schützend die Hände über den Kopf. Im selben Augenblick ging oben die Granate hoch.
Aus dem Durchbruch quoll eine Mischung aus ätzendem Rauch und Staub. Die Stützbalken im Tunnel begannen bedrohlich zu knacken. Das dumpfe Grollen, das gleich nach der Explosion eingesetzt hatte, schwoll immer mehr an. Stürzte etwa der Stollen ein? Nichts wie weg! Sofort!
Im Kopf schrillten die Alarmsirenen, doch die Arme und Beine fanden in dem breiigen Lehm keinen Halt. Schon fielen die ersten Erdklumpen auf seinen Rücken, und im Gesichtsfeld tauchte ein herabgestürzter Deckenbalken auf. Das unheilvolle Rumoren erfüllte den gesamten Raum und ließ dem Stalker das Blut in den Adern gefrieren. Der Tunnel bebte. Kurz darauf drückte ihn eine bleierne Last zu Boden und nahm ihm die Luft. Noch bevor er in Panik verfallen konnte, traf ihn etwas Hartes am Hinterkopf und knockte ihn aus.
Und es liegt doch ein versteckter Sinn in jener verbissenen Hartnäckigkeit, mit der sich der Mensch ans Leben klammert. In jenem masochistischen Wunsch, an der Schwelle zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt den Todeskampf zu verlängern. In jenem trotzigen Bestreben, in schier aussichtslosen Situationen dem Tod doch noch von der Schippe zu springen, selbst wenn die Chancen auf Rettung gegen null tendieren.
Es heißt ja, dass in solchen Minuten des Hinübergleitens noch einmal die wichtigsten Stationen des Lebens vor dem geistigen Auge vorüberziehen. Doch in Wirklichkeit ist der Verstand von einer klebrigen, beklemmenden Angst gelähmt. Der Gedanke an das nahende Ende nimmt das Gehirn vollständig in Beschlag, und dem von Adrenalin überfluteten Körper fällt nichts Besseres ein, als den Darm zu entleeren.
Das Bewusstsein war auf einen Schlag sämtlicher akustischer, visueller und taktiler Reize beraubt und schwebte im absoluten Nichts. Es rebellierte. Der an Armen und Beinen gefesselte Körper wurde von unkontrollierbaren Krämpfen geschüttelt. Der Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei, und über das Kinn rann etwas Klebriges. Blut?
Mit aus den Höhlen tretenden Augen rang der Stalker nach Luft. Das Atmen fiel schwer, aber es gelang. Die Lungen brannten wie Feuer und begannen zu vibrieren, als der belebende Sauerstoff sie durchströmte.
Wie konnte das sein? Eine Luftblase? Woher? Was war geschehen? Richtig, er hatte einen Schlag abbekommen …
Womöglich lag irgendein Balken oder sonst ein Teil der Stützkonstruktion über seinem Kopf und bildete einen Hohlraum. Das verschaffte ihm die einmalige Möglichkeit, seinen langsamen Erstickungstod in voller Länge zu erleben und die Qualen des Todeskampfes auszukosten. Der Stalker hatte dem Tod in all den Jahren schon oft ins Auge gesehen, doch in einem so absurden Gewand hatte sich der Sensenmann noch nie präsentiert – nicht mal in den schlimmsten Albträumen.
Lebendig begraben … Eingemauert unter tonnenschweren Massen aus Sand, Lehm und Steinen. Dutzende Meter unter der Erde. Ohne eine Wahl. Ohne Abschied . A llein mit seiner eigenen Ohnmacht und einer nagenden, alles verzehrenden Angst.
Knirsch … Knirsch …
Sein eigenes Zähneknirschen? Wohl kaum. Der Mund des Söldners stand offen und schnappte nach den Resten der stickigen, heißen Luft. Was dann? Ein Geräusch, das von außen kam? Oder produzierte sein von Angst vernebeltes Gehirn bereits Halluzinationen?
Knirsch … Knirsch …
Vielleicht ein Kanalwurm, der sich zu seiner hilflosen Beute durchwühlte? Oder Aaskäfer, die sich mit ihren Mandibeln vorangruben, weil sie das Blut unter der Erdschicht gewittert hatten?
Taran zuckte zusammen, als etwas Spitzes gegen seine Schulter drückte. Ein Stoß … Noch einer … Dann wieder dieses seltsame Geräusch, als würde vermoderter Stoff auseinanderreißen.
Knirsch … Knirsch … Knirsch.
Für einen Augenblick kehrte Stille ein. Dann
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