Die Reise in die Dunkelheit
jemand …«
Aurora gab sich mit dem Vorschlag zufrieden und marschierte voraus. Gleb folgte ihr. Er bereute bereits, dass er Wladlen sein Wort gegeben hatte. Die Probleme wuchsen wie ein rollender Schneeball, und das Wiedersehen mit Taran rückte in immer weitere Ferne. Wo sein Stiefvater jetzt wohl war? Sicher machte er sich Sorgen und suchte nach ihm. Oder er hatte wieder einen seiner Anfälle, die ihn in letzter Zeit immer häufiger heimsuchten …
Der Junge überzeugte sich davon, dass das Fläschchen mit der Medizin noch an seinem Platz war, und ballte ohnmächtig die Fäuste. Warum konnte er das Projekt Eden nicht einfach hinschmeißen und sich mit dem Serum für Taran zur Linie 2 absetzen? Am liebsten hätte er diesen Arzt und diese Fremde mit ihren fixen Ideen einfach vergessen. Wieso war sich Wladlen eigentlich so sicher, dass er sein Versprechen erfüllen würde? Was hätte Taran an seiner Stelle getan? Hätte er sein Wort gehalten?
Wieder viele Fragen – und wie immer keine Antworten …
»Aurora!«
»Was ist?«
»Warum willst du unbedingt an die Oberfläche?«
Leise knirschte der Sand unter ihren Füßen. Der Tunnelwind zauste das störrische Haar des Mädchens.
Aurora zögerte lange, bevor sie antwortete.
»Weil ich es versprochen habe«, sagte sie dann lapidar.
10
DER LETZTE WILLE
Der Rückweg durch den nun schon bekannten Tunnel fiel Gleb wesentlich leichter. Vielleicht lag es daran, dass die ständige Ungewissheit vor der nächsten Biegung wegfiel oder dass man sich zu zweit einfach sicherer fühlte. Jedenfalls war der Junge jetzt, in der vertrauten Umgebung feuchter, hallender Tunnel, viel besser gelaunt.
Aurora dagegen blickte sich auf dem Weg zur Tschernyschewskaja fortwährend um und spähte ängstlich in die undurchdringliche Finsternis der Betriebsräume und Seitengänge. Immer wieder tanzte der Lichtkegel ihrer Lampe nervös über die Tunnelwände. Hinter jedem Geräusch vermutete sie das Scharren von Pfoten oder den rauen Atem unbekannter Monster.
Ihr Begleiter verzichtete darauf, sie aufzumuntern. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass man die Tunnelangst selbst durchleben und überwinden musste. Der Junge schmunzelte, als er an seinen ersten eigenständigen Ausflug in den Krankenhauskeller dachte. Der Streifzug in der pechschwarzen Dunkelheit hatte ihm damals nicht nur ein zerrüttetes Nervenkostüm eingebracht, sondern auch ein paar schmerzhafte blaue Flecken.
Dank seines Lehrmeisters und unzähliger im Untergrund zurückgelegter Kilometer hatten sich Angst und Nervenflattern mit der Zeit gelegt . A n ihre Stelle war nüchterne Vorsicht getreten und die Fähigkeit, die Geräusche im Tunnel zu »lesen«.
Beim Passieren des Kontrollpostens der Tschernyschewskaja half ein Empfehlungsschreiben, das ihm der umsichtige Wladlen mitgegeben hatte . A ls die Wachen sich über die minderjährige Reisegesellschaft mokierten, hielt Gleb ihnen einfach das sorgfältig zusammengefaltete Dokument unter die Nase . A urora flüsterte er zu, er habe es im Labor des Arztes mitgehen lassen. Seine Begleiterin schöpfte zum Glück keinen Verdacht. Sie war ohnehin viel zu sehr von den ärmlichen Verhältnissen an der Station gefangen genommen.
Mit unverhohlener Abscheu betrachtete Aurora die dicht aneinandergepressten Wohnbaracken, um die verwahrloste, grimmige Gestalten herumwuselten wie in einem riesigen Ameisenhaufen. Gleb bemerkte durchaus, dass das Mädchen die Siedler wie Aussätzige ansah, doch er sparte sich jeglichen Kommentar. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, möglichst schnell den gegenüberliegenden Tunnel zu erreichen.
»Was stinkt denn hier so?« Das Mädchen rümpfte angewidert die Nase.
»Es leben viele Menschen hier. Die Lüftung ist zu schwach. Und beim Waschen geht’s nach Zeitplan. Wahrscheinlich kommt jeder Bewohner nur zweimal dran.«
»Zweimal pro Woche?«
»Zweimal pro Monat. Zwei Badetage im Monat sind völlig normal an einer Metrostation.«
Dem Mädchen blieb die Spucke weg. Diese Ungeheuerlichkeit musste sie erst einmal verdauen.
Die Zustände in der bewohnten Metro schlugen Aurora unverkennbar auf den Magen . A uf dem Weg zur Ploschtschad Wosstanija sank ihre Stimmung vollends in den Keller. Gleb fragte sich die ganze Zeit, was ihr wohl mehr zusetzte: die finsteren, leeren Tunnel oder die stickigen, übervölkerten Stationen mit ihren abgestumpften Bewohnern, die ein beengtes und entbehrungsreiches Dasein fristeten. Menschen, die das Elend in die
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