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Die Reise Nach Petuschki

Titel: Die Reise Nach Petuschki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wenedikt Jerofejew
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Kubanskaja in der Tasche? Hab ich. Na also, dann geh hinaus auf die Plattform und trink. Trink, damit der Brechreiz nachläßt.
    Ich ging auf die Plattform, von allen Seiten eingekreist von dem blöden Grinsen der Passagiere. Vom Grund meiner Seele stieg Unruhe auf, und es war unmöglich, zu begreifen, was für eine Unruhe das war, woher sie kam und warum sie so unfaßbar war ...
    »Ist die nächste Haltestelle Ussad, ja?« Die Leute drängten sich an den Türen in Erwartung des Ausstiegs. An sie war meine Frage gerichtet: »Ist die nächste Haltestelle Ussad?«
    »Was stellst du hier dumme Fragen im besoffenen Kopf? Hättest lieber zu Hause bleiben sollen«, antwortete irgend so ein Opa. »Du hättest zu Hause bleiben und deine Schulaufgaben machen sollen. Bestimmt sind deine Schulaufgaben für morgen noch nicht fertig, deine Mutter wird schimpfen.«
    Und dann setzte er hinzu: »Kaum trocken hinter den Ohren, aber gescheit daherreden!«
    Ist der übergeschnappt, der Alte? Was für eine Mutter? Was für Schulaufgaben? Was für Ohren? Doch nein, wahrscheinlich ist nicht der Alte übergeschnappt, sondern ich. Weil nämlich ein anderer Opa mit ganz, ganz weißem Gesicht, der neben mir stand, mir von unten nach oben in die Augen sah und sagte:
    »Und überhaupt: wohin willst du schon fahren? Unter die Haube kommst du sowieso nicht mehr und auf den Friedhof noch früh genug. Wohin willst du schon fahren, kleine Nachtschwärmerin?«
    Kleine Nachtschwärmerin!!!
    Ich zuckte zusammen und verdrückte mich auf die andere Seite der Plattform. Etwas geht auf der Welt nicht mit rechten Dingen zu. Etwas ist faul im Königreich. Die Leute können nicht alle Tassen im Schrank haben. Für alle Fälle befühlte ich mich vorsichtig von oben bis unten. Ich und »kleine Nachtschwärmerin«! Wie kommt er bloß darauf? Was soll das? Man kann natürlich einen Spaß machen, aber doch nicht einen derart plumpen!
    Ich bin bei Sinnen, nur die andern sind alle nicht bei Sinnen. Oder ist es umgekehrt: sind alle andern bei Sinnen, nur ich allein bin es nicht? Die Unruhe kam höher und höher aus der Tiefe des Herzens. Und als wir an der Haltestelle waren und sich die Tür öffnete, hielt ich es nicht mehr aus und fragte noch einmal einen der Aussteigenden:
    »Ist das Ussad, ja?«
    Der spannte sich plötzlich wie eine Saite und fauchte mich an: »Ganz und gar nicht!!« Und dann — dann drückte er mir die Hand, verbeugte sich und flüsterte mir ins Ohr: »Ich werde Ihre Güte nie vergessen, Genosse Oberleutnant...!«
    Er stieg aus dem Zug aus und wischte sich mit dem Ärmel eine Träne aus dem Gesicht.

Ussad — Kilometer 105
    Ich blieb auf der Plattform zurück, allein, verlassen und in völliger Konsternation. Eigentlich war das gar keine Konsternation, sondern wieder die gleiche Unruhe, die jetzt in Bitterkeit überging. Einerlei. Der Teufel soll ihn holen. Meinetwegen »kleine Nachtschwärmerin«, meinetwegen »Oberleutnant«. Ich möchte nur eins wissen. Warum ist es hinter dem Fenster so dunkel? Kann mir das jemand sagen? Warum ist es hinter dem Fenster so dunkel, wenn der Zug seit dem Morgen erst einhundert Kilometer gefahren ist? Warum ...?
    Ich drückte meine Stirn gegen die Scheibe. Welche Finsternis! Und was ist das dort in der Finsternis? Regen oder Schnee? Oder sind es Tränen, durch die ich in diese Finsternis sehe? Gott!
    »Ah! Du bist es!« sagte jemand hinter meinem Rücken mit so angenehmer und hämischer Stimme, daß ich mich gar nicht erst umdrehte. Ich hatte sofort begriffen, wer da hinter meinem Rücken stand. Gleich wird er anfangen, mich zu versuchen, dachte ich. Widerliche Fratze! Hat der nichts anderes zu tun?
    »Du bist es also, Jerofejew«, sagte der Satan.
    »Klar bin ich es, wer denn sonst?«
    »Ist es schwer, Jerofejew?«
    »Klar ist es schwer. Nur geht dich das nichts an. Geh weiter, du bist an den Falschen geraten ...«
    Ich sagte das, immer noch mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt, ohne mich umzudrehen.
    »Wenn es schwer ist«, fuhr der Satan fort, »dann bezwinge den Höhenflug. Bezwinge den Höhenflug des Geistes. Das wird dich erleichtern.«
    »Um keinen Preis.«
    »Du bist ein Dummkopf.«
    »Der Dummkopf bist du.«
    »Schon gut, schon gut... ich sag kein Wort mehr! Mach lieber folgendes: spring doch einfach während der Fahrt aus dem Zug. Vielleicht hast du Glück und überlebst es
    Ich dachte einen Augenblick nach, bevor ich antwortete: »Nein, nein, springen tu ich nicht. Ich hab Angst. Das

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