Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Reise Nach Petuschki

Titel: Die Reise Nach Petuschki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wenedikt Jerofejew
Vom Netzwerk:
genau um elf Uhr morgens, stand sie auf dem Bahnsteig, mit ihrem Zopf vom Nacken bis zum Hintern ... es war ganz hell, ich erinnere mich genau, und an den Zopf erinnere ich mich auch ganz genau
    »Laß doch den Zopf. Begreif doch endlich, Idiot, ich wiederhole: die Tage nehmen ab, weil Herbst ist. Ich bestreite nicht, daß es letzten Freitag um elf Uhr morgens hell war. Doch diesen Freitag kann es um elf Uhr morgens bereits so dunkel sein, daß man die Hand vor Augen nicht mehr sieht. Weißt du eigentlich, wie schnell die Tage heute abnehmen? Weißt du das? Ich sehe, du weißt überhaupt nichts und gibst nur vor, daß du alles weißt. Du kommst mir mit dem Zopf. Der Zopf mag ja vielleicht länger werden, der kann seit dem letzten Freitag schon weiter reichen als bis zum Hintern. Aber mit dem Herbsttag ist es umgekehrt — je mehr Zeit vergeht, desto kürzer wird er...! Du bist schon recht begriffsstutzig, Wenja!«
    Ich gab mir selbst eine leichte Backpfeife, trank noch drei Schluck, und meine Augen füllten sich mit Tränen. Vom Grund meiner Seele stieg anstelle der Unruhe Liebe auf. Ich war untröstlich.
    »Du hast ihr Purpur und Lilien versprochen, und nun hast du für sie dreihundert Gramm Pralinen »Kornblumen In zwanzig Minuten wirst du in Petuschki sein und ihr auf dem sonnenüberfluteten Bahnsteig verlegen diese ›Kornblume‹ reichen. Und ringsum werden alle sagen: ›Zum dreizehnten Mal sehen wir nichts anderes als diese „Kornblume". Kein einziges Mal haben wir Lilien oder Purpur gesehen!‹ Und sie wird auflachen und sagen ...«
    Beinahe wäre ich wirklich eingeschlafen. Mein Kopf war mir auf die Schulter gefallen, und ich wollte ihn bis Petuschki nicht mehr hochheben. Ich hatte mich erneut dem Strom hingegeben ...

Kilometer 105 — Pokrow
    Aber ich wurde daran gehindert, mich länger dem Strom hinzugeben. Kaum hatte ich mich vergessen, schlug mir jemand mit dem Schwanz über den Rücken.
    Ich zuckte zusammen und drehte mich um: Vor mir stand jemand ohne Beine, ohne Schwanz und ohne Kopf.
    »Wer bist du?« fragte ich verwundert.
    »Rate mal!« Er lachte kannibalisch.
    »Raten? Das fehlte noch!«
    Ich wandte mich beleidigt ab, um mich wieder zu vergessen. Doch da versetzte mir jemand aus dem Anlauf mit seinem Kopf einen Hieb ins Kreuz. Ich drehte mich um: Vor mir stand wieder dieser Jemand ohne Beine, ohne Schwanz und ohne Kopf.
    »Weshalb schlägst du mich?« fragte ich.
    »Rate mal!« antwortete er, wieder mit dem gleichen kannibalischen Lachen.
    Diesmal entschloß ich mich doch für das Raten. Wenn ich mich wieder von ihm abwende, dachte ich, fällt ihm bestimmt nichts Gutes ein; dann haut er mir womöglich seine Beine ins Kreuz.
    Ich senkte die Augen und dachte nach. Er wartete, daß ich es erraten sollte, und fuchtelte mit seiner ansehnlichen Faust vor meiner Nase herum, als würde er mir Idioten die Rotze abwischen wollen.
    Als erster fing dann doch er zu sprechen an:
    »Du fährst also nach Petuschki? In die Stadt, wo weder sommers noch winters der Jasmin und so weiter ...?«
    »Ja. Wo weder sommers noch winters der Jasmin und so weiter.«
    »Wo deine Schnalle zwischen Jasmin und Seide flackt und die Vöglein um sie herumflattern und sie küssen, wohin es ihnen gefällt.«
    »Jawohl, wohin es ihnen gefällt.«
    Er lachte wieder und versetzte mir einen Schlag zwischen die Rippen: »Hör zu. Vor dir steht die Sphinx, und sie wird dich nicht in jene Stadt lassen.«
    »Und warum wird sie mich nicht lassen? Warum willst du mich nicht lassen? Was ist denn los in Petuschki? Ist etwa eine Seuche ausgebrochen, oder hat dort jemand seine eigene Tochter geheiratet
    »Das, was dort vor sich geht, ist schlimmer als alle Seuchen und Töchter zusammen. Ich muß es schließlich wissen., Also: ich lasse dich nicht hin, und basta. Das heißt, ich lasse dich, wenn du fünf Rätsel lösen kannst.«
    Wie kommt dieser Dreckskerl auf Rätsel? dachte ich für mich und sagte laut: »Also, hör auf mich zu quälen. Welches sind deine Rätsel? Nimm deine Faust weg und schlag mich nicht in die Rippen. Fang an mit den Rätseln.«
    Wie kommt dieses Arschloch auf Rätsel? dachte ich noch einmal, doch er hatte schon mit dem ersten begonnen: »Der berühmte Stoßarbeiter Alexej Stachanow ging zweimal am Tag ein kleines Geschäft machen und einmal in zwei Tagen ein großes. Wenn es vorkam, daß er sich besoff, ging er viermal am Tag ein kleines Geschäft machen und kein einziges Mal ein großes. Wie oft im Jahr ging der

Weitere Kostenlose Bücher