Die Rekonstruktion des Menschen
Waldwand war und links die Schlucht, deren spärliches und niedriges Gebüsch niemandem Unterschlupf bot. Sie durchquerten das steinige Flüßchen und gelangten auf eine verlassene Straße, die Asphaltdecke war gerissen, in den Ritzen wuchs Gras.
Sie waren noch nicht weit gekommen, als Miller plötzlich sein Pferd anhielt und lauschte. Dann stieg er hastig ab, kniete sich hin und legte das Ohr auf den Boden.
»Da stimmt irgend etwas nicht«, sagte er und stand auf. »Jemand verfolgt uns. Runter vom Weg!«
Betley stieg ab, und sie führten die Pferde durch den Straßengraben in ein Erlendickicht.
Kurz darauf hörte auch der Journalist Hufschlag. Er kam näher. Der Reiter ritt in vollem Galopp.
Dann erspähten sie durch das welke Laub ein graues Pferd, auf dem in plumper Haltung ein Mann in gelben Hosen und Regenmantel saß. Er ritt so dicht vorbei, daß Betley gut sein Gesicht erkennen konnte: Diesen Mann hatte er schon einmal gesehen. Er erinnerte sich sogar, wo es gewesen war. Gestern abend in der Stadt hatte in der Nähe der Bar eine Gruppe von fünf oder sechs Männern herumgestanden, alle breitschultrig und auffallend gekleidet.
Und alle hatten sie ein und dieselben Augen. Träge, halbgeschlossene, dreist blickende Augen. Betley kannte diese Augen – Ganovenaugen.
Der Reiter war kaum vorbeigeprescht, als Miller auf den Weg sprang.
»He!« rief er.
Der Mann zügelte sein Pferd und hielt an.
»He, warte!«
Der Reiter sah sich um und schien den Förster zu erkennen. Einige Augenblicke lang blickten sie einander in die Augen. Dann winkte der Mann ab, wendete und jagte weiter.
Der Förster blickte ihm nach, bis der Hufschlag in der Ferne verstummt war. Dann schlug er sich plötzlich aufseufzend mit der Faust gegen den Kopf.
»Jetzt ist alles im Eimer. Jetzt erst recht.«
»Was ist los?« fragte Betley, der ebenfalls aus dem Gebüsch hervortrat.
»Ach, nichts… Bloß, daß unser Vorhaben nun geplatzt ist.«
»Aber warum denn?« Der Journalist sah den Förster fragend an und stellte verwundert fest, daß er Tränen in den Augen hatte.
»Jetzt ist alles aus«, sagte Miller, wandte sich ab und rieb sich dem Handrücken die Augen. »Ach, die Schweine! Diese Schweine!«
»Hören Sie mal!« Betley verlor langsam die Geduld. »Wenn Sie durchdrehen – bitte schön, dann lohnt es sich wahrhaftig nicht, weiterzureiten.«
»Durchdrehen!« rief der Förster. »Sie glauben, ich drehe durch? Dann sehen Sie mal da!«
Er zeigte auf einen Tannenzweig mit großen roten Zapfen, der in zirka dreißig Meter Entfernung über den Weg hing.
Noch hatte Betley nicht begriffen, weshalb er sich diesen Zweig ansehen sollte, als ein Schuß krachte und ihm Pulverrauch ins Gesicht schlug – der alleräußerste, einzeln hängende Tannenzapfen plumpste auf den Asphalt.
»Von wegen ich drehe durch.« Miller ging in den Erlenhain und holte sein Pferd.
Noch vor Dunkelheit erreichten sie die Farm.
Aus dem unfertigen Holzhaus trat ein großer schwarzbärtiger Mann mit zottigen Haaren. Schweigend beobachtete er, wie der Förster und Betley ihre Pferde absattelten. Danach erschien eine Frau auf der Vortreppe, ihr Gesicht war flach und ausdruckslos, das rötliche Haar ungekämmt. Ihr folgten drei Kinder. Zwei Jungs von acht oder neun Jahren und ein ungefähr dreizehnjähriges Mädchen, dünn wie ein Strich.
Die fünf schienen sich über die Ankunft Millers und des Journalisten nicht zu wundern, sie zeigten weder Freude noch Verdruß. Sie standen nur schweigend da und schauten. Dieses Schweigen gefiel Betley nicht.
Beim Abendessen versuchte er, ein Gespräch anzuknüpfen.
»Erzählen Sie mal, wie werden Sie hier mit den Otarks fertig? Machen sie Ihnen sehr zu schaffen?«
»Wie?« Der schwarzbärtige Farmer legte die Hand hinters Ohr und warf Betley einen Blick über den Tisch zu. »Wie?« schrie er. »Sprechen Sie lauter, ich höre schwer.«
So ging es geraume Weile; der Farmer kehrte hartnäckig seine Schwerhörigkeit heraus und begriff nicht, was man von ihm wollte. Zu guter Letzt breitete er die Arme aus. Ja, Otarks gebe es hier. Ob sie ihn störten? Nein, ihn persönlich nicht. Und was die anderen anginge, da wisse er nicht Bescheid. Da könne er nichts sagen.
Mitten im Gespräch stand das strichdünne Mädchen auf, hüllte sich in ein Tuch und ging wortlos hinaus.
Sobald die Teller leergegessen waren, holte die Farmersfrau zwei Matratzen aus dem Nebenzimmer und bereitete das Lager für die Ankömmlinge.
Miller gebot ihr Einhalt: »Bitte, wir
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