Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)
Was sie aber noch immer nicht verstand, war der Grund. Hing es damit zusammen, dass sie diese besondere Fähigkeit besaß? Oder hatte es etwas mit ihrer Familie zu tun? Vojtech hatte ihren wahren Namen gewusst, aber er hatte ihn nicht von Engelbert erfahren, wie dieser beteuert hatte. Also kannte er ihn von seinem Auftraggeber, Fürstabt Fulbach. Doch was hatte dieser hinterhältige Christenfürst, der nicht einmal davor zurückschreckte, seinen eigenen König zu ermorden, mit ihrer Familie zu schaffen? Ihrer Familie! Die einzige Familie, die sie kannte und liebte, waren ihre Zieheltern Menachem ben Jehuda und Esther bat Abraham, und die waren grausam ermordet worden.
Ein eisiger Wind kam auf, trotzdem fror Rebekka nicht, im Gegenteil, sie spürte Hitze in sich, als läge sie im Fieber. Adonai, hilf mir, dachte sie. Sie biss sich auf die Zunge. Der Schmerz überdeckte ein wenig die Trauer, die in ihren Eingeweiden brannte. Immer wieder schlug die Faust von innen auf ihren Unterleib ein, ein Strudel an Erinnerungen drohte, sie hinwegzuspülen.
Ein Gedanke schälte sich heraus. Wie sehr hasste sie Karl? Wünschte sie ihm den Tod? Könnte sie ihn mit eigener Hand töten? Nein, sie war nicht wie er. Sie war keine Mörderin.
Ihre Beine waren schwer wie Blei, der Weg den Hradschin hinauf war so steil wie noch nie. Rebekka hob den Blick. Hunderte Lichter hüllten die Prager Burg in unwirkliches Licht. Sie würde ihre Gefühle nicht offenbaren. Sie würde nichts von sich preisgeben. Der König würde sich heute Nacht zur Ruhe begeben, ohne zu ahnen, welch erbitterter Feindin er Gastfreundschaft gewährt hatte.
Die Wache ließ sie ungehindert passieren. Auf dem Hof drängten sich Adlige, hohe Geistliche, Kaufleute und wichtige Beamte des Königs, die alle um dessen Aufmerksamkeit buhlten.
Am Eingang zum Palas musste von der Hardenburg seine Waffen abgeben. Sie wurden in den großen Saal geführt, in dem Rebekka bei ihrem ersten Besuch von Bischof Louis de Montfort empfangen worden war.
Auf der Schwelle hielt Engelbert von der Hardenburg sie zurück und wandte sich an einen Mann, der ein langes Pergament in Händen hielt.
»Engelbert von der Hardenburg und Amalie Severin«, flüsterte der Ordensritter dem Ausrufer zu.
Der warf einen Blick auf das Pergament, reckte sich und verkündete mit unglaublich lauter Stimme: »Der ehrenwerte Ritter und Gesandte des Deutschen Ordens Engelbert von der Hardenburg, Amicus unseres geliebten Königs, und die liebreizende Amalie Severin, Amica des Königs.«
Der Ordensritter zog hörbar Luft in seine Lungen. »Habt Ihr das gehört?«
Rebekka schwieg.
»Ihr seid in den Stand einer Amica aufgestiegen! Das ist großartig. Damit gehört Ihr zum Hofstaat, und zwar zu den dreihundert Auserwählten, die jederzeit Zugang zum Palas haben. Man wird Euch die entsprechenden Dokumente bald aushändigen.«
Sie betraten den Saal. Vor den festlich gedeckten Tafeln standen lange Bänke. Nur noch wenige Plätze waren frei. Von überallher drangen Gesprächsfetzen und Gelächter zu ihnen, die Stimmung war gelöst und heiter.
Louis de Montfort kam auf sie zu, lächelte. Wieder hielt er Rebekka den Ring hin, aber kaum hatte sie den Mund dem Stein genähert, ließ er sie wieder aufstehen und schaute sie freundlich an.
»Ihr seid also die junge Frau mit der beneidenswerten Eigenschaft, nichts zu vergessen, was sie jemals gesehen hat«, sagte er, zog eine Pergamentrolle aus dem Umhang und reichte sie Rebekka. »Ihr habt es ja schon gehört. Der König hat Euch zur Amica erhoben und erwartet Euch.« Er zeigte auf Karls Empfangsraum, der von vier Rittern bewacht wurde. Rebekka steckte wie betäubt das Pergament in ihren Gürtel. Andere hätten dafür ihre Seele gegeben, für sie aber bedeutete es eine furchtbare Demütigung. Freundin des Königs? Was für eine Heuchelei! Aber genau so machte sich Karl die Menschen gefügig: mit Geld, Ländereien und Titeln. Er kaufte sie einfach.
Einer der Ritter öffnete schwungvoll die Tür. Engelbert von der Hardenburg ging vor, sie folgte ihm dicht auf den Fersen. Hinter ihnen klackte die Tür wieder ins Schloss. Rebekkas Hals wurde eng. Nach wie vor spielten sie dem König eine Posse vor, noch immer wusste er nicht, dass sie Rebekka bat Menachem aus Rothenburg ob der Tauber war, die Tochter ermordeter Juden. Und dass sie gleichzeitig Amalie Belcredi war, ausgesetzte Tochter christlicher Eltern.
Karl blickte von seinen Dokumenten auf, lächelte warm. Rebekka atmete
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