Die Rettung
Dylan sie fassungslos anstarrte, stieg von einem der Schiffe eine Rauchwolke auf, gefolgt von einem dumpfen Knall. Ein Stück Burgmauer fiel krachend in sich zusammen. Die Männer in der Burg beantworteten das Feuer sofort, es gelang ihnen jedoch nur, die Takelage eines der Schiffe zu zerstören.
Rechts von Dylan pfiff es plötzlich hell, dann schlug eine Kanonenkugel mitten unter den am Ufer lagernden Jakobiten ein. Erdbrocken und Fleischfetzen spritzten auf. Dylan warf sich augenblicklich flach zu Boden. Als er es wagte, den Kopf zu heben, entdeckte er zwei weitere englische Schiffe auf dem Loch Long. Scheiße! Jetzt wusste er, wieso die Jakobiten bei Shiel Bridge eine vernichtende Niederlage erleiden würden. Der Weg nach Norden war ihnen versperrt.
Einige der Männer, darunter auch die Mathesons, sprangen auf und hoben ihre Musketen. Artair, der gleichfalls auf dem Hügel stand, gab Befehl, das Feuer zu erwidern.
Dylan unterdrückte einen bösen Fluch und rannte zu ihm hin, um allein mit ihm zu reden. Es schickte sich nicht, seinem Kommandanten in aller Öffentlichkeit zu widersprechen, mochte er auch noch so unfähig sein. »Artair, nicht! Warte, bis sie in Ufernähe sind!«
»Feuer!«
Ein paar Männer drückten ab, jedoch bei weitem nicht alle. Die älteren von ihnen wussten, worauf Dylan hinauswollte, und überhörten den Befehl. Doch als Artair ihnen erneut zuschrie, sie sollten feuern, gehorchten sie schließlich widerstrebend. Dylan schüttelte grimmig den Kopf. So ein Wahnsinn, wertvolle Munition zu verschwenden, wenn das Ziel noch viel zu weit entfernt war! Die meisten Kugeln schlugen im Wasser ein. Vielleicht hatte der eine oder andere englische Soldat einen leichten Streifschuss davongetragen, mehr aber auch nicht.
In der Burg wurde das englische Kanonenfeuer immer noch erwidert, doch Dylan sah, dass zugleich Pferde, Vorrats-karreu und Kanonen in Sicherheit gebracht wurden. Jakobiten und Spanier strömten durch das Tor; nur wenige der Soldaten bemannten noch die restlichen Kanonen, um ihren Kameraden Deckung zu geben.
Auch Artair brüllte endlich: »Alle Mann zu mir!« Gut, er hatte doch noch Vernunft angenommen. Dylan folgte ihm. Die Mathesons schlossen sich den anderen Clans an, die am Ufer des Loch Duich entlang Richtung Süden auf Shiel Bridge zumarschierten.
Die Jakobitenführer bemühten sich um einen geordneten Rückzug, was ihnen größtenteils auch gelang. Sowie sie außer Schussweite waren, gingen die Engländer an Land und drangen in die Burg ein. Dylan drehte sich noch einmal um und sah überall zwischen den Ruinen und auf der Brustwehr rotberockte englische Marinesoldaten umherhuschen. Sie erinnerten ihn an überdimensionale rote Wanzen. Angewidert wandte er sich ab und marschierte weiter.
Während die Engländer damit beschäftigt waren, die wenigen in der Burg zurückgebliebenen Spanier niederzumetzeln, blieb den Jakobiten und dem Hauptteil der spanischen Truppen genug Zeit zur Flucht, die sie auch weidlich nutzten.
Doch als sie Shiel Bridge am Ende des Sees erreichten, ließ Tullibardine die Männer nicht Halt machen, sondern führte sie weiter talaufwärts. Dylan beschlich plötzlich das seltsame Gefühl, er könne sich im Hinblick auf die bevorstehende Schlacht doch irren. Konnte ihn seine Erinnerung dermaßen getrogen haben? Eigentlich sollten die Jakobiten hier rasten und später in den entscheidenden Kampf verwickelt werden. Die Schlacht würde erst in einem guten Monat stattfinden, da war er sich ganz sicher, weil er das Datum kannte, den 10. Juni 1719. Heute war der fünfte Mai.
Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in diesem Jahrhundert kamen ihm Zweifel an der Unvermeidlichkeit historischer Ereignisse. Er begann sich zu fragen, was wohl im Laufe des nächsten Monats alles geschehen würde oder ob bereits etwas geschehen war, was den Lauf der Geschichte, wie er ihn kannte, entscheidend verändert hatte.
Je weiter sie gen Osten marschierten, desto wahrscheinlicher erschien es Dylan, dass ihr Befehlshaber einen Weg in ein neutrales Gebiet suchte, sofern es so etwas für sie überhaupt noch gab. Der Marsch durch Glen Shiel war lang und beschwerlich. Viele Verwundete mussten von ihren Clansleuten getragen werden. Einige starben unterwegs und wurden unter Steinhaufen begraben, andere würden langsam an Wundbrand oder Infektionen dahinsiechen. Doch keiner der Sterbenden gab einen Laut von sich, und auch unter den unverletzten Männern herrschte bedrückende Stille.
Es war
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